Cellarius (Borrhaus), Martin

geb. 1499 in Stuttgart, Deutschland, gest. am 11. Oktober 1564 in Basel, Schweiz; Vertreter radikalreformatorischer Positionen, Geschichtstheologe.

Person und Werk des Cellarius sind schwierig zu charakterisieren, da er in seinem Leben die religiösen und geistigen Fronten vielfach gewechselt hat. In Stuttgart geboren, studierte er 1512–1515 als Kommilitone und Freund →Philipp Melanchthons in Tübingen Artes (M. A.), und ging 1519 nach Ingolstadt, wo er bei Johannes Reuchlin Hebräisch und bei Johannes Eck Theologie studierte (B.A. Theologiae 1521). Zunächst ein glühender Bewunderer Ecks führte eine persönliche Auseinandersetzung 1521 zum Bruch, ein Muster, das in der Biografie des Cellarius wiederkehrt. In bewusster Abkehr wandte er sich nach Wittenberg, wo er sich – von Melanchthon gefördert – der Theologie Luthers verschrieb, schon Ende 1521 aber unter den Einfluss der sogenannten Zwickauer Propheten geriet. Dass Luther ihren Anspruch, die endzeitliche prophetische Geistesgabe zu besitzen, nicht akzeptierte, führte im April 1522 zum Bruch auch mit dem Reformator. In den folgenden Jahren hielt er sich in Süddeutschland und verschiedenen Städten Polens auf und stand dabei im Kontakt mit Andreas →Karlstadt, Gerhard →Westerburg und der beginnenden Täuferbewegung um Felix →Mantz. Eventuell führte ein Streit mit Ulrich →Zwingli in Zürich zur Flucht des Cellarius nach Königsberg, wo er sich wegen chiliastischer Irrlehren vor Gericht verantworten musste. Als Verteidigung verfasste er sein theologisches Hauptwerk De operibus Dei. Im Februar 1526 mit der Auflage entlassen, sich von Luther belehren zu lassen, besuchte er diesen in Wittenberg, reiste jedoch im November 1526 nach Straßburg weiter, wo er zumindest zeitweise Wolfgang →Capito für seine restitutionalistischen und prädestinatianischen Lehren gewinnen konnte, während Hans →Denck und Ludwig →Hätzer sich nach einer Diskussion über die Willensfreiheit im Dezember von ihm lossagten. Dennoch hing ihm der Ruf an, selbst Täufer zu sein. Auch die Drucklegung von De operibus Dei (Juli 1527 in Straßburg) brachte nicht die ersehnte Rehabilitation durch Zwingli oder Luther. 1527 und erneut 1536 hatte Cellarius vermögend geheiratet, was ihm ein Leben als Privatgelehrter ermöglichte. 1541 erhielt er einen Ruf als Professor der Rhetorik an die Universität Basel, 1544 wurde er Nachfolger Karlstadts als Professor für Altes Testament und zeigte auch in dieser Position weiterhin Sympathien für Vertreter der radikalen Reformation (enge Freundschaft mit Caelius S. Curio und David →Joris, Kontakte zu Laelio Socino, Bernadino Ochino, Sébastien Castellio, Michael Servet und Kaspar von →Schwenckfeld). Am 1564 starb Cellarius in Basel an der Pest.

Über sein Leben sind wir vor allem durch eine handschriftlich erhaltene Autobiografie informiert. Sein Werk zeigt wie die Biografie bemerkenswerte Brüche und ist kaum eindeutig zu charakterisieren. Seine ungewöhnlichen theologischen Anschauungen äusserte er vor allem in De operibus Dei, später widmete er sich fast ausschließlich der Kommentierung alttestamentlicher und aristotelischer Schriften. Der erste Teil von De operibus Dei entwickelt auf der Grundlage eines skotistischen Gottesbildes eine denkbar radikale supralapsarische, doppelte und exklusive Prädestinationslehre: Die Erwählung Gottes ist weder durch äußere Zeichen noch durch den alten oder neuen Bund beschränkt und umfasst Juden, Heiden und Christen, eine Willensfreiheit des Menschen lehnt Cellarius daher ab. Der zweite Teil entwickelt die Lehre von den Sakramenten, die angesichts der prädestinatianischen Voraussetzungen keine soteriologische, sondern nur noch zeichenhafte Funktion haben können (und, so Cellarius, auch abgeschafft werden könnten). Der dritte Teil entwickelt vor diesem Hintergrund eine eschatologische Geschichtstheologie, deren hermeneutischer Schlüssel eine konsequent typologische Schriftauslegung darstellt: Wenn (nach Hebr. 10,1) das Schicksal der Juden als des fleischlichen Israel das Schicksal der Erwählten als des wahren Israel präfiguriert, dann müssen die alttestamentlichen Prophezeiungen für das fleischliche Israel wortwörtlich erfüllt sein, bevor die Erlösung der Erwählten kommen kann. Cellarius ging deshalb davon aus, dass mit dem unmittelbar bevorstehenden (zweiten) Kommen Christi zum Gericht und der Errichtung des Tausendjährigen Reiches zugleich auch die Juden nach Palästina zurückkehren und den Tempel sowie das davidisches Königreich wiedererrichten würden. Die reale Erfüllung der alt- und neutestamentlichen Prophezeiungen ist selbst wieder typologische Präfiguration für das dritte Kommen Christi zur endzeitlichen Auferstehung von den Toten. Diese im Gegensatz zur gesamten eschatologischen Tradition stehende Geschichtstheologie wurde von Capito in seinem Hosea-Kommentar (1528) in toto übernommen, von den schweizerischen Reformatoren aber als chiliastisch abgelehnt.

Cellarius war selbst kein Täufer, wurde von seinen Zeitgenossen aber der Sympathien für das Täufertum verdächtigt. Tatsächlich entsprachen aber weder die Gnadenlehre noch die Sakramentenlehre, sondern allenfalls der wohl auf Thomas →Müntzer zurückgehende Chiliasmus täuferischen Vorstellungen. Seine sich allerdings weniger apokalyptischen Vorstellungen als exegetischen Einsichten verdankende Lehre von der realen Restitution Israels rückte ihn in die Nähe Augustin →Baders.

Literatur

Abraham Friesen, Martin Cellarius. In der Grauzone der Ketzerei, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus. München 1978, 210–222. - Irena Backhus, Martin Borrhaus (Cellarius), Baden-Baden 1981. - R. L. Williams, Martin Cellarius and the Reformation in Strasburg, in: Journal of Ecclesiastical History 32, 1981, 477–497. - Anselm Schubert, Täufertum und Kabbalah. Augustin Bader und die Grenzen der Radikalen Reformation, Gütersloh 2008, 327–344. - Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, Zwickauer Propheten und Sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation, Schriften der Thomas-Müntzer-Gesellschaft 12, Mühlhausen 2010.

Anselm Schubert

 
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