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Crous, Ernst
geb. am 6. März 1882 in Krefeld, gest. am 31. Mai 1967 in Krefeld, Deutschland; Bibliotheksrat in Berlin und Göttingen, Ältester der Mennonitengemeinde Göttingen.
Ernst Crous entstammte einer alten Mennonitenfamilie in Krefeld. Von 1901 bis 1908 (Staatsexamen) studierte er Philosophie, Geschichte und Literaturgeschichte, nebenher auch Theologie und Kunstgeschichte, in Marburg, München, Berlin und Bonn. Nach seiner Promotion mit einer Dissertation über „Die religionsphilosophischen Lehren Lockes und ihre Stellung zum Deismus seiner Zeit“ 1909 in Bonn absolvierte er nach einer kurzen Tätigkeit als Seminarkandidat am Hennebergischen Gymnasium in Schleusingen Volontariate an Bibliotheken in Hamburg, Jena und Berlin. 1918 schlug er die Laufbahn als Bibliotheksrat an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin ein und lehrte nach kurzer Zeit auch an der Bibliotheksschule dieser renommierten Einrichtung. Von 1944 bis zu seiner Pensionierung 1946 arbeitete er an der Universitätsbibliothek in Göttingen, wohin die Berliner Bibliotheksschule verlegt worden war. In Berlin hatte er sich auf die Geschichte der Inkunabeln (Wiegendrucke vor 1500) spezialisiert. Von 1920 bis 1925 leitete er die Geschäftsstelle des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke und erwarb sich mit seinen Forschungen und kenntnisreichen Veröffentlichungen zur Geschichte der Wiegendrucke und der Buchkunde internationale Anerkennung.
1925 wurde er in den Gemeinderat der Mennonitengemeinde zu →Berlin und fünf Jahre später zum Vorsitzenden gewählt. Er setzte sich mit Erfolg dafür ein, die weit über Berlin verstreuten Mennoniten, die teilweise aus anderen Gemeinden Deutschlands in die Hauptstadt gezogen waren, von einem Verein zu einer Gemeinde auf der Grundlage eines Bekenntnisses zu verschmelzen, das schon früher dem Bekenntnis der Mennonitengemeinde in Danzig entlehnt worden war. In den Mennonitischen Grundsätzen heute stellte Crous 1933 das Selbstverständnis der Gemeinde nach innen und nach außen dar und in dem zur Information der Gemeindeglieder eingerichteten Mitteilungsblatt (1933–1941) berichtete er über die wichtigen Gegenwartsprobleme der Mennoniten. Auch sorgte er dafür, dass weiterhin Gastprediger aus den Heimatgemeinden zahlreicher Gemeindeglieder verpflichtet wurden, um ein regelmäßiges Gottesdienstleben zu gewährleisten. An hohen Festtagen wurde der Gottesdienst aus eigener Kraft in guter mennonitischer Laienpredigertradition gefeiert. Besonders intensiv setzte Crous sich für das Hilfswerk Brüder in Not ein, das russlanddeutschen Mennoniten in ihrer schwierigen Lage half, und in Vorträgen sowie in den Mitteilungen erinnerte er die Gemeinde an ihr täuferisches Erbe und die „Kulturleistungen“ der mennonitischen Vorfahren. Das stärkte das konfessionelle Bewusstsein der Gemeindeglieder, zugleich war Crous darum bemüht, Kontakte zu anderen Kirchen in Berlin anzuknüpfen und zu pflegen. Regelmäßig arbeitete er im Deutschen Ausschuss des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen mit und sorgte für eine ökumenische Öffnung seiner Gemeinde.
Während des →Dritten Reichs und der Neugründung der →Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden 1934 war es Crous gelungen, den Anschluss der Berliner Gemeinde an die liberalen Stadtgemeinden zu festigen, zumal ein engerer Zusammenschluss aller deutschen Mennoniten auf der Grundlage eines einheitlichen Bekenntnisses nicht zustande gekommen war. In den innerkirchlichen Auseinandersetzungen und gegenüber den Forderungen des nationalsozialistischen Regimes gelang es ihm, einen „mittleren Weg“ zu beschreiten und die Gemeinde „nicht politisch überfremden zu lassen“. Gleichwohl bekannte Crous sich mit seiner Gemeinde zur Loyalität gegenüber dem Staat und bestätigte die schon früher erfolgte Entscheidung der Gemeinde, den Wehrdienst dem Gewissen des Einzelnen zu überlassen. Im Wehr- bzw. Kriegsdienst sah Crous nicht eine Bereitschaft zum Töten, sondern die „Bereitschaft zum eigenen Opfertod“. Das hatte mit dem Pazifismus der Täufer nichts mehr zu tun. Doch angesichts der Tatsache, dass seine beiden Söhne 1941 an der Front gefallen waren, war das sicherlich eine Einsicht, die ihm nicht leicht gefallen war. Andererseits unterstützte Crous, der 1932 auch zum zweiten Vorsitzenden der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden gewählt worden war, deren Bemühungen um die Befreiung der Mennoniten von der Eidesleistung in den verschiedenen Gliederungen der nationalsozialistischen Bewegung (Hitlerjugend, Arbeitsdienst) und in der Wehrmacht (→Eid).
Auch von Göttingen aus versah Ernst Crous noch seinen Dienst in Berlin, wo Erich →Schultz bereits in den letzten Kriegsmonaten eingesprungen war, 1946 den Vorsitz der Gemeinde übernommen hatte und 1949 durch Ernst Crous und Rudolf Hein (Mulmke) zum Ältesten der Berliner Gemeinde ordiniert wurde. Crous schickte Vorträge nach Berlin, die in der Gemeinde verlesen wurden, und besuchte die Gemeinde, um dort zu predigen, Taufunterricht zu erteilen und Taufgottesdienste abzuhalten. Bis 1953 war er noch zweiter Vorsitzender, in diesem Jahr wurde er zum Ehrenvorsitzenden der Gemeinde ernannt.
In den Wirren des Zweiten Weltkriegs waren zahlreiche Flüchtlinge aus Westpreußen und Russland nach Göttingen und die weitere Umgebung gelangt. Crous übernahm die Aufgabe, die Flüchtlinge in Niedersachsen, Westfalen und Nordhessen geistlich zu betreuen und materiell zu unterstützen. 1945 wurde die erste Flüchtlingsgemeinde unter deutschen Mennoniten in Göttingen gegründet und Ernst Crous 1946 auf dem Weierhof von Christian →Neff, Emil →Händiges und Abraham →Braun zu ihrem Ältesten ordiniert. Er hielt Gottesdienste und besuchte die Flüchtingsfamilien in zahlreichen Orten: Braunschweig, Salzgitter, Hannover, Bielefeld, Detmold, Kassel. Unterstützt wurde er von Laienpredigern, die sich als Vertriebene in diesem weiten Gebiet aufhielten: u. a. Ernst Regehr, Gerhard Fast, Johannes Driedger. Er war auch dabei, als 1946 das →Hilfswerk der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden (HVDM) ins Leben gerufen wurde, stellte sich vorübergehend für den Vorsitz zur Verfügung und richtete eine Auslieferungsstelle für Hilfsgüter ein, die von nordamerikanischen Mennonitengemeinden in die britische Besatzungszone Norddeutschlands geschickt wurden. Auch die Mennoniten-Speisung der Göttinger Studenten ging auf seine Initiative zurück.
Bald nach Kriegsende gelang es ihm, eine Zusammenkunft von Mennoniten aus den Niederlanden, Kanada, Nord- und Süddeutschland in Göttingen zu organisieren, um Brücken der Verständigung wieder aufzubauen, die im Krieg zerstört worden waren. Als Vertreter der Vereinigung der deutschen Mennonitengemeinden (bis 1951) half er 1948, die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland zu gründen und in demselben Jahr auch den Ökumenischen Rat der Kirchen in Amsterdam. An inoffiziellen und offiziellen ökumenischen Kontakten lag ihm stets viel. 1949/50 lehrte er als Gastdozent an den mennonitischen Colleges in Goshen, Bluffton und North Newton. Auch diese Tätigkeit hat zur Verständigung unter den Mennoniten weltweit beigetragen, vor allem aber eine fruchtbare Zusammenarbeit mit mennonitischen Historikern und Theologen in Forschungsvorhaben zur Täufer- und Mennonitengeschichte eingeleitet.
1933 war er eines der Gründungsmitglieder des →Mennonitischen Geschichtsvereins; von 1947 bis 1967 übernahm er die Leitung des Vereins und wurde in dieser Funktion auch Vorsitzender der Täuferaktenkommission des Vereins für Reformationsgeschichte. Von 1947 bis 1966 wirkte er als Mitherausgeber des Mennonitischen Lexikons und hat 1958 gemeinsam mit Harold S. →Bender den Dritten Band fertiggestellt. Gleichzeitig arbeitete er an der Vorbereitung der vierbändigen Mennonite Encyclopedia mit. Von 1949 bis 1966 war er an der Schriftleitung der Mennonitischen Geschichtsblätter beteiligt. Den Forschungen zur Geschichte der Täufer und Mennoniten galt sein Leben lang ein besonderes Interesse. Er schrieb zahlreiche Artikel für das Mennonitische Lexikon (ML), die Mennonite Encyclopedia (ME) und Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), auch Aufsätze in anderen Zeitschriften. Er war nicht nur ein „bedeutender Wissenschaftler des Buchdrucks“, wie es in einem Nachruf aus dem Krefelder Archiv heißt, sondern auch ein kenntnisreicher Historiker der mennonitischen Geschichte. Gemeinsam mit seiner Frau Therese, geb. Genthe, die ihn bereits in Berlin bei allen Aktivitäten in der Gemeinde unterstützt hatte, sammelte er Quellenmaterial und Forschungsliteratur zur Geschichte der Täufer und Mennoniten schon in Berlin, seit 1948 ist in Göttingen und seit 1960 in Krefeld die Rede von einer Forschungsstelle. Das Ehepaar hatte sich in ein Krefelder Altenheim zurückgezogen, setzte aber die Arbeit an der Forschungsstelle in Räumen fort, die von der Stadt Krefeld im Hause des Stadtarchivs zur Verfügung gestellt worden waren. Damit wurde der Grundstock für die →Mennonitische Forschungsstelle gelegt, die 1968 auf den Weierhof (Pfalz) übersiedelte und seit 1998 über ein eigenes Haus verfügt.
Ernst Crous hat, vom freiheitsbewussten und weltoffenen Geist der nordwestdeutschen Mennoniten geprägt, tief ins gesamte Mennonitentum hineingewirkt und schon von Berlin, besonders aber nach dem Zweiten Weltkrieg von Göttingen aus viel zur Verständigung und Versöhnung unter Mennoniten unterschiedlicher Frömmigkeitstraditionen beigetragen.
Veröffentlichungen (Auswahl)
Die religionsphilosophischen Lehren Lockes und ihre Stellung zum Deismus seiner Zeit (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 34, hg. von Benno Erdmann), Halle/S. 1910. - Zahlreiche Aufsätze zum Buchwesen, s. bibliographische Angaben in: Jahresberichte der Preußischen Staatsbibliothek 1925 – 1938, s. auch Kürschners Gelehrtenkalender. - Artikel und Aufsätze zur Täufer- und Mennonitengeschichte sind bibliographisch erfasst in: Mennonitische Geschichtsblätter 1953, 41 – 44; und 1967, 5 – 14. - 70 Jahre Berliner Mennonitengemeinde, Berlin 1957 (Privatdruck). - 1887 – 1987. 100 Jahre Berliner Mennonitengemeinde, 2. Aufl. 1995 (Privatdruck), 9–56.
Literatur
Veröffentlichungen und Nachrufesind bibliographisch erfasst in: Mennonitische Geschichtsblätter, 1967, 12 f. - Franz Heckmanns, Bibliotheksrat Dr. Ernst Crous, in: Die Heimat, Krefeld 1967, 126–127. - Gerhard Hein, Ernst Crous in Memoriam, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1967, 3 – 14. - John Oyer, Ernst Crous, 1882 – 1967, in: Mennonite Quarterly Review 42, 1968, 301 – 311. - Julia und Gerhard Hildebrandt, Ernst Crous (1882 – 1967). Brückenschlag nach allen Seiten, in: Mennonitisches Jahrbuch 1987, 78 – 82. - Lexikonartikel: Crous, Ernst (Gerhard Hildebrandt), in: Mennonite Encyclopedia V, 213.
Hans-Jürgen Goertz