Inhaltsverzeichnis
Froese, Leonhard
geb. am 9. Februar 1924 in Einlage (Saporischschja), Chortitza, Ukraine, gest. am 9. Dezember 1994 in Marburg/Lahn, Deutschland; Professor für Pädagogik.
Leonhard Froese wurde als Sohn des mennonitischen Ingenieurs Peter Froese und dessen Ehefrau Elisabeth, geb. Unger, in Einlage, Chortitza, Ukraine, geboren. Nach dem Abitur ging er nach Deutschland, wurde zum Militärdienst eingezogen und kam zum Kriegseinsatz. Nach einer schweren Verwundung wurde ihm das linke Bein amputiert. Nun, nicht mehr kriegstauglich, begann er im Sommersemester 1944 in Breslau mit dem Studium der Rechts- und Geisteswissenschaften. Nach dem Krieg setzte er sein Studium in den Fächern Pädagogik, Psychologie und Soziologie in Göttingen und Basel fort. 1949 promovierte er bei Herman Nohl in Göttingen mit einer Arbeit zum Thema Das Pädagogische Kultursystem der mennonitischen Siedlungsgruppe in Russland, die den Zeitumständen entsprechend maschinenschriftlich vervielfältigt wurde.
Danach wurde Froese von 1950 bis 1955 Assistent am Erziehungswissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg, anschließend war er Dozent am Pädagogischen Institut und nahm in den Jahren 1956 bis 1957 eine Gastdozentur am Osteuropa-Institut der Freien Universität in Berlin wahr. 1957 habilitierte er sich hier mit der Arbeit Russische und sowjetische Pädagogik. Ideengeschichtliche Triebkräfte der russischen und sowjetischen Pädagogik. Noch im selben Jahr erhielt er von der Universität Göttingen die Venia Legendi im Fach Pädagogik. 1958 bis 1959 war er Privatdozent an der Universität Hamburg und im Wintersemester 1959/60 folgte er einem Ruf auf ein Extraordinariat an der Universität in Münster. 1961 wurde er auf den Lehrstuhl für Pädagogik an die Philipp-Universität in Marburg berufen, wo er bis 1989 Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Vergleichende Erziehungswissenschaft, Historische Pädagogik und Bildungspolitik gelehrt hat.
In der Historischen Pädagogik galt Froeses besonderes Interesse dem Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi. Das wurde bereits durch seinen Lehrer Herman Nohl geweckt, und Pestalozzi hatte auch bei seinen Vorgängern in Marburg Paul Natorp und Elisabeth Blochmann eine wichtige Rolle gespielt. Mit seinen Vorlesungen und Seminaren sowie mit seinen Aufsätzen und mit den Publikationen seiner Doktoranden hat Froese Akzente in der Pestalozzi-Forschung gesetzt. Da gelangte er vom „anthropologischen“, über den „politischen“ hin zum „historischen“ Pestalozzi.
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Lehr- und Forschungsarbeit war für Froese die Vergleichende Erziehungswissenschaft. Durch die Gründung der Forschungsstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft in Marburg im Jahre 1966 sowie durch seine eigenen Publikationen und die seiner Mitarbeiter an der Forschungsstelle gehörte er zu den Begründern und den international anerkannten Vertretern der Vergleichenden Erziehungswissenschaft in der Bundesrepublik. Bereits in seiner Habilitationsschrift hatte er sich ausführlich mit den russischen und sowjetischen Pädagogen befasst. Mit seinen Mitarbeitern initiierte er die auf etwa 20 Bände berechnete Ausgabe von Makarenkos Werken und Briefen in russischer und ukrainischer Sprache mit deutscher Übersetzung. Bildungspolitisch befasste Froese sich und seine Mitarbeiter .mit den Entwicklungen des Bildungswesens in den Industriestaaten in Ost und West.
Froese gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu der Studentengeneration, die durch die Aufarbeitung ihrer Erfahrungen in der nationalsozialistischen Zeit und ihren eigenen Kriegserlebnissen zu der Überzeugung gelangt waren, an dem Aufbau demokratischer Verhältnisse in Deutschland mitzuarbeiten. Da er stets Gesamtdeutschland im Blickfeld hatte, fiel es ihm nicht schwer, sich frühzeitig für eine Öffnung gegenüber Ostdeutschland einzusetzen. Als kritisches Mitglied der Freien Demokratischen Partei (FDP) setzte er sich auf dem sozialliberalen Flügel seit Mitte der sechziger Jahre für eine Friedenspolitik ein, die eine auf Entspannung gerichtete Ostpolitik voraussetzte.
Im universitären Bereich setzte Froese sich für die Mitbestimmung von Studenten und akademischen Mitarbeitern an der Universität ein und war 1969/70 eines der Mitglieder des Rektorentriumvirats der Philipps-Universität.
Zum „Internationalen Jahr des Kindes“ legte Froese Zehn Postulate zur Behandlung von Kindern in aller Welt vor, die in deutscher, englischer und französischer Sprache auch der UNESCO zugeleitet werden sollten.
Leonhard Froese gehörte dem Bekenntnis nach zu den Mennoniten. In der Nachkriegszeit hat er sich in mehreren Aufsätzen in den mennonitischen Blättern zu Lehre und Leben der Täufer-Mennoniten kritisch zu Wort gemeldet. Seine engagierte berufliche Arbeit ließ ihm später wenig Zeit für die Kontakte zu den Mennoniten. Für die Mennoniten in Südamerika hat er sich wiederholt eingesetzt. Er akzeptierte Einladungen zu den Treffen südamerikanischer mennonitischer Studenten in der Bundesrepublik und stand ihnen bezüglich ihres Studiums in Deutschland mit Rat zur Seite. Nach seiner Emeritierung im Jahre 1989 kam er für kurze Zeit in den paraguayischen Chaco, wo er am Lehrerseminar in Filadelfia und in der Öffentlichkeit mehrere Vorträge hielt. Aus Froeses Privatbibliothek durfte der Verfasser insgesamt 1116 Bücher auswählen, die dieser alle dem Institut für Lehrerbildung in Filadelfia geschenkt hat.
Mit seinem Aufsatz Pestalozzi und der Pietismus befasste sich Froese mit Pestalozzis Auseinandersetzung mit Theologie und Christentum und weist den großen Einfluss pietistischen Gedankengutes im schweizerischen Protestantismus nach. In seinem Alter habe Pestalozzi sich vor allem dem praktischen Christentum zugewandt und dabei das Bekenntnis zu Jesus Christus und seinen Aufruf zur Nachfolge hervorgehoben. Was lag näher, als dass Froese diesen Gedankengang in dem Aufsatz „Pestalozzi und die Mennoniten“ vertiefte und dabei Pestalozzis Wertschätzung für die „Stillen im Lande“, wie Mennoniten, Täufer, Herrenhuter und Quäker betonte.
Von 1965 bis 1970 war Froese Mitglied der Enquete-Kommission „Auswärtige Kulturpolitik des Deutschen Bundestages“ und besuchte in dieser Eigenschaft auch die Mennonitenkolonien in Paraguay, wobei er sich einerseits für die Unterstützung der Siedlerschulen einsetzte, andererseits aber auch deren Öffnung gegenüber anderen Ethnien in der Region postulierte.
Für seine Verdienste um die Bundesrepublik Deutschland wurde Froese 1985 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen. Sein langjähriger Kollege am Erziehungswissenschaftlichen Seminar der Philipps-Universität in Marburg charakterisierte ihn anlässlich seines siebzigjährigen Geburtstages als „Liberal-demokratischen Geist mit internationaler Spitzenleistung.“ Gerhard Kuhlemann, einer seiner Doktoranden und Mitarbeiter in Marburg, kennzeichnete seinen Umgang mit Doktoranden so: Er gab „Anstöße zu Humanität und Liberalität, die nicht einengen, sondern öffnen, die freigeben zu eigenständiger Entwicklung.“ Und in einem Nachruf des Fachbereichs Erziehungswissenschaften in Marburg ist zu lesen: „Leonhard Froese gehörte zu jenen Hochschullehrern, die sich aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sowohl in ihrem beruflichen Wirkungskreis als auch in der politischen Öffentlichkeit am Aufbau demokratischer Verhältnisse engagiert beteiligt haben.“
Ausgewählte Werke
Leonhard Froese, Schule und Gesellschaft, Weinheim, 1962. - Russische und sowjetische Pädagogik. Ideengeschichtliche Triebkräfte der russischen und sowjetischen Pädagogik, 2. stark erweiterte Aufl., Heidelberg 1963. - Pestalozzi und der Pietismus, in: Pädagogische Rundschau 1963, 331–354. - Pestalozzi und die Mennoniten, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1964, 19–27. - Deutsche Schulgesetzgebung. Bd. I: Brandenburg, Preußen und deutsches Reich bis 1945, eingeleitet und bearbeitet von Leonhard Froese und Werner Krawietz, Weinheim, Berlin, Basel 1968. Leonhard Froese in Verbindung mit H. Arndt u. a., Aktuelle Bildungskritik und Bildungsreform in den USA, Heidelberg 1968. - Bildungspolitik und Bildungsreform. Amtliche Texte und Dokumente zur Bildungspolitik im Deutschland der Besatzungszonen, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, hrsg. und eingeleitet von Leonhard Froese unter Mitarbeit von Viktor von Blumenthal, München 1969. - Der „politische Pestalozzi“, der Beginn einer Pestalozzi-Renaissance?, in: Zur Diskussion des politische Pestalozzi. Mit Beiträgen von Leonhard Froese, Dietmar Kamper, Dietrich Krause-Vilmar, Horst Messmer, Richard Pippert und Georg Rückriem, Weinheim und Basel 1972. - Zur Diskussion: Der historische Pestalozzi, in: Pädagogische Rundschau 1980, 89–92. - Ausgewählte Studien zur vergleichenden Erziehungswissenschaft. Positionen und Probleme, München 1983.
Literatur
Gerhard Kuhlemann, Akzente in der Pestalozzi-Forschung (Leonhard Froese 1924–1994), im Internet: http://www.heinrich-pestalozzi.de/ - Wolfgang Klafki, Liberal-demokratischer Geist mit internationaler Spitzenleistung, in: Oberhessische Presse vom 9. 2. 1994. Zehn Postulate aus Marburg zum „Internationalen Jahr des Kindes“, in: Marburger Universitätszeitung vom 11. 1. 1979.
Jakob Warkentin