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Martyrium (Märtyrerinnen und Märtyrer)

1. Leidensmuster

1570 oder 1571 erschien vermutlich in Köln ein Gesangbuch, das einzelne Täufergruppen bis heute benutzen (Außbund). Es umfasst 131 Lieder, von denen 23 „Märtyrerlieder“ sind: Lieder von Täufern über biblische, frühchristliche und zeitgenössische Glaubensheldinnen und Glaubenshelden. Neun dieser Märtyrerlieder stammen aus dem ersten Martyrologium der →Täufer, dem 1562 und 1563 in zwei Teilen erschienenen mennonitischen Het Offer des Heeren, das in den Niederlanden, aber auch im angrenzenden niederdeutschen Raum weite Verbreitung fand; vier weitere aus der Feder von Schweizer Täufern; mindestens zwei sind hutterischer Provenienz. Wie schon Martin Luthers Ein neues Lied wir heben an, der Prototyp evangelischer Märtyrerlieddichtung, sind auch die „Marter-Gesänge“ des sogenannten Außbunds kurz nach den Ereignissen entstanden, die sie dramatisieren (→Liederdrucke der Täufer). Auch sie haben die Baustruktur der erzählenden, historisch-dokumentarischen Ereignis- und Zeitungslieder übernommen, was ihren alles in allem recht stereotypen Aufbau erklärt. Nach Anfangsstrophen, die zumeist volksliedhafte Züge aufweisen, folgt das Märtyrerschicksal, das sich in immer gleichen Stationen des Leidens vollzieht: in Gefangennahme und Haft; in Verhör und Disputation; in der Folter dann zumeist; in der Gerichtsverhandlung; im Urteil; im Gang zum Schafott; am Ende in der Hinrichtung selbst. Wie die lutherischen Glaubenshelden der frühen reformatorischen Flugschriften lassen auch die Täuferinnen und Täufer der Märtyrerlieder – obwohl allesamt theologische Autodidakten ohne höhere Ämter oder größere Prominenz – keine Gelegenheit aus, das Wort zu ergreifen, zu predigen und nicht zuletzt auch ihren Glauben zu bekennen. Wie ihre Vorgänger stellen sie das Personal, das da anklagt, höhnt, droht, erpresst und nichts lieber als einen Widerruf hören würde, theologisch immer wieder bloß, wobei die Frauen den Männern in nichts nachstehen, allen voran die Mennonitinnen Elisabeth Dirks und Maria und Ursula van Beckum. Daran wollen die Lieder keinen Zweifel lassen: Jene „einfältigen Stimmen“, die sich in ihnen Gehör verschaffen, sind die Stimmen der „Schafe Gottes“, Stimmen der Sanftmut, der Liebe und der Wahrheit. Wie ihre Vorgänger gehen auch die Täuferinnen und Täufer häufig singend, zumeist fröhlich, immer wieder lachend, auf jeden Fall aber beherzt, stark, fest und betend in den Tod. Wie ihre Vorgänger vergeben auch sie ihren Spöttern, Folterern und Richtern. Auch sie finden noch die Kraft, ihren Familien, Freunden und selbst ihren Peinigern Trost zu spenden. Kurz: Wie ihre Vorgänger wissen auch sie, was zu tun ist, wenn es heißt zu leiden und zu sterben. Wie die Welt der lutherischen Märtyrerflugschriften ist auch die Welt der täuferischen Märtyrerlieder eine eschatologisch gedeutete und dramatisierte Welt, in der das apostolische Heer dem „bösen Haufen“ gegenübersteht.

2. Die Ethik der Leidsamkeit

Im Unterschied zu den Flugschriften der Lutheraner aber demonstrieren die Lieder der Täufer sehr viel drastischer, was es heißt, in dieser Welt zu den „Schafen“ zu gehören, indem sie immer wieder die Qualen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten vor Augen führen, ihre körperlichen Qualen zumal, indem sie vor allem immer wieder (und in dichten Nahaufnahmen) beschreiben, wie die Gefangenen gefoltert werden, um sie zu zwingen, einen Widerruf zu leisten oder auch die Namen von Glaubensbrüdern und Glaubensschwestern preiszugeben. Fragt man, warum die Lieder das Quälen des Körpers so raumgreifend wie detailversessen darstellen, liegt es zuerst einmal nahe, sie als Medien der Imagination und damit auch der meditativen Antizipation von Schmerz zu verstehen, die letztlich seiner asketisch-spirituellen Überwindung dient. Gleichzeitig aber fällt auf, dass die Täuferinnen und Täufer, die doch ausnahmslos freudig und erwartungsvoll in den Tod gehen, das Quälen ihrer Körper im Unterschied zu vielen Legendenheiligen keineswegs verzückt oder selbstvergessen, ja, nicht einmal gelassen ertragen, so standhaft sie auch letztlich bleiben. Im Gegenteil, sie alle zweifeln ganz offensichtlich daran, ob sie durchstehen können, was ihnen angetan wird, und legen damit die Vermutung nahe, dass die ausgedehnte Dramatisierung von physischer Gewalt in den Liedern noch eine andere Funktion hat: Indem die Lieder keinen Zweifel daran lassen, dass die Folter ihre Opfer körperlich und seelisch erreicht, demonstrieren sie jenes Prinzip der „Leidsamkeit“ – der „lijdzaamheid“ der niederländischen Täuferakten -, das als notwendige Bedingung für die „Imitatio Christi“ die Ethik aller Täufergruppen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bestimmte und damit zugleich auch die Praxis der Wehr- und Gewaltlosigkeit der Gemeinden begründete. Mehr noch: Indem die Märtyrerlieder keinen Zweifel an den Qualen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten lassen und damit unmissverständlich zu erkennen geben, dass die Liebe zu Gott und das Kreuz zusammengehören, verbürgen sie die Wahrheit der Lehre, die in ihnen bekannt wird. Die radikale Demonstration des ethischen Prinzips der „Leidsamkeit“ offenbart allen, die diese Lieder auswendig lernen, die sie singen oder die ihnen zuhören, einen fundamentalen Sinnzusammenhang, den nur der Tod beglaubigen kann. Das aber heißt auch: Die Gemeinschaft, die diese Lieder konstituieren, die Gemeinschaft, die in der Taufe „versiegelt“ und im Abendmahl stets aufs Neue als „communio sanctorum“ formiert wird, ist eine „Opfergemeinschaft“. Eine Gemeinschaft, die erst – und nur – als Opfergemeinschaft dazu in der Lage ist, das augenscheinlich erfolgreiche Wirken des Teufels in der Welt als „sinnvoll“ zu deuten und auf diese Weise kollektiv verstehbar werden zu lassen.

3. Eine Kultur des Martyriums

Da die Täufer seit ihrer Entstehung vehement verfolgt und in großer Zahl hingerichtet wurden: in der Schweiz allein zwischen 1525 und 1539 über 70 Frauen und Männer, im Reich ohne die verfolgungsintensiven nordwestdeutschen und niederländischen Territorien im selben Zeitraum über 700, erstaunt es nicht, auch in anderen täuferischen Quellen als den Märtyrerliedern durchgängig auf ein Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu stoßen, das Brad S. Gregory als „martyrological mentality“ bezeichnet hat: ob in den Aussagen der „Schafe Christi“ vor Gericht oder in ihren Testamenten, ob in Gefängnisbriefen, Bekenntnissen oder „Vermahnungen“ an die Gemeinden. Man kann es auch so sagen: Wer die Martyrienkultur der Täufer in den Blick nimmt, nimmt die Kultur der Täufer in den Blick. Darüber hinaus steht außer Frage, dass es nicht an Täuferinnen und Täufern fehlte, die Zeugnisse ihrer gefangenen Brüder und Schwestern heimlich aus den Gefängnissen schafften, um sie in den Familien und Gemeinden kursieren zu lassen, und damit ermöglichten, was man einen „ambulanten Totenkult“ nennen könnte, einen Totenkult von Versteck zu Versteck. Indem es den einzelnen Täufergruppen schon sehr früh gelang, ihre Toten trotz aller Gefahren auf diese Weise zu kollektivieren, entwickelten sie sich erstaunlich rasch zu heroischen Erinnerungsgemeinschaften, die in dem Maße, wie der unmittelbare Verfolgungsdruck nachließ, auch ihre Erinnerungsmedien professionalisierten. Was in den Verfolgungen hatte bewahrt werden können, wurde seit Mitte des 16. Jahrhunderts systematisch kompiliert und oft auch hagiographisch überarbeitet und ergänzt. Es wurde mit Vorreden und Einführungen versehen und an universalgeschichtlich dimensionierte Leidenschroniken gehängt, sodass Martyrologien entstanden, die wie ihre lutherischen und reformierten Pendants immer auch Entwürfe der Vergangenheit enthalten und damit zu erkennen geben, inwieweit auch die Täufer glaubten, eine Geschichte gehabt zu haben, ja, inwieweit auch sie hofften, werden zu können, wie sie meinten, gewesen zu sein. In anderen Worten: Wer die Martyrienkultur der Täufer in den Blick nimmt, hat es seit Mitte des 16. Jahrhunderts mit Sammlungen zu tun, die den Täufergruppen je eigene heroische Vergangenheiten zumaßen, um sie als Märtyrergemeinschaften in Zeiten zusammenzuhalten, die keine Märtyrerzeiten mehr waren, in Zeiten nicht zuletzt des Übergangs dieser Gemeinschaften vom „kommunikativen“ zum „kulturellen“ Gedächtnis. Die beiden wichtigsten Sammlungen dieser Art sind das Geschichtbuech der Hutterer, das seit etwa 1570 in →Mähren entstand, und der Bloedigh Tooneel Der Doops-Gesinde, En Weereloose Christenen des Mennoniten Tieleman Jansz van Braght aus Dordrecht. Dieses Buch erschien erstmals 1660.

4. Geschichtstheologie im hutterischen „Geschichtbuech“

Zumeist aus Oberdeutschland und Österreich stammend, waren die Hutterer seit den späten zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts in die vergleichsweise sicheren Adelsherrschaften der Markgrafschaft Mähren geflohen, um den zunehmenden Täuferverfolgungen im Reich zu entkommen (→Hutterische Bruderhöfe). Hier lebten sie auf „Bruderhöfen“ in strenger Gütergemeinschaft und brachten es rasch auch zu einigem Wohlstand, am Ende des Jahrhunderts wohl über 20.000 Erwachsene. Als die Hutterer damit begannen, ihr Geschichtbuech, ihr „Dickes Buch“, zu verfassen, lagen ihre unmittelbaren Verfolgungserfahrungen also bereits lange zurück – und nicht wenige von ihnen hatten solche Erfahrungen nie gemacht. Nach der „Vorrede“ folgt eine „Geschichtbeschreibung“, die vom Anfang der Welt bis zur Entstehung des Täufertums sieben Weltalter unterscheidet, wobei auffällt, dass sie im siebten Weltalter ihren universalen Zuschnitt verliert, um mit der →Konstantinischen Wende zu einer reinen Verfolgungsgeschichte zu werden; sei doch mit der Konstantinischen Wende die freiwillige Gemeinschaft der Gläubigen der Apostelzeit verloren gegangen. Erst mit ihr habe der Geist Gottes begonnen, die Kirche zu verlassen, um bis in die Gegenwart hinein bei jenen Zuflucht zu suchen, die der Papst verketzert habe. Nicht, dass die „Geschichtbeschreibung“ alle Ketzer des siebten Weltalters zu wahren Nachfolgern Christi erklären würde, was sie angesichts der hutterischen Kriterien Gewaltlosigkeit, Glaubenstaufe und Gütergemeinschaft hagiographisch wohl auch überfordert hätte. Auch ist sie im bezeichnenden Unterschied zu den protestantischen Martyrologien des 16. Jahrhunderts weit davon entfernt, die Geschichte bestimmter Ketzer und Ketzergruppen als Geschichte der wahren Kirche zu entwerfen und damit nicht zuletzt auch als Geschichte einer beständigen heroischen Sukzession. Andererseits gesteht sie bestimmten Ketzern – Jan Hus zum Beispiel – einen „kleinen Schein“ der Wahrheit zu, den sie auch Martin →Luther und Huldrych →Zwingli nicht vollständig verweigert, sei doch ihr „Anfang“ durchaus „schön“ gewesen. Schon bald allerdings seien Luther und Zwingli – auf die weltlichen Obrigkeiten setzend und damit den Sündenfall der alten Kirche wiederholend – auf den falschen Weg geraten, denn nicht nur, dass die beiden weit davon entfernt gewesen seien, ihr Leben (und das ihrer Anhänger) zu bessern, sie hielten auch an der Kindertaufe fest und begannen damit, ihre Lehre unerbittlich mit dem Schwert zu verteidigen, sodass am Ende des siebten Weltalters des Geschichtbuechs die Tyrannei eines Neuen Babylon steht. Der Beginn der Tyrannei des Neuen Babylon aber markiert zugleich auch den Beginn der Geschichte der „Gemain“ und damit den Beginn der „letzten“ und „besten“ Zeit, womit die Entstehung der Täuferbewegung in ein ebenso sakrales wie außer-historisches, um nicht zu sagen: gegen-historisches Licht gerückt wird. Das Geschichtbuech lässt auf diese Weise eine „Gemain“ entstehen, die ohne explizite historische Präfigurationen auskommen muss, alles in allem aber doch glauben darf, in der Geschichte immer schon potentiell vorhanden gewesen zu sein. Was folgt, ist eine Leidenschronik von 853 Druckseiten. Einsetzend mit der „Absonderung“ des Grebel-Kreises (Konrad →Grebel) von Zwingli und seinen Anhängern und der baldigen Verfolgung dieses Kreises, erzählt das Geschichtbuech die Geschichte der „Gemain“ in erster Linie als eine Geschichte von Flucht zu Flucht, von Verhör zu Verhör – und, soweit das 16. Jahrhundert zur Rede steht, vor allem auch als eine Geschichte von Martyrium zu Martyrium, wobei das Sterben der „proto"-hutterischen und hutterischen Blutzeuginnen und Blutzeugen besonders ausführlich und zumindest streckenweise auch als Selektions- und kollektiver Läuterungsprozess dramatisiert wird. Als Prozess, der überdies zu erkennen gibt, dass sich der „Besserungsanspruch“ des Geschichtbuechs mehr und mehr von der individuellen auf die kollektive Lebensführung verlagert.

5. Geschichtstheologie im niederländischen Märtyrerspiegel

Als sich 1660 die Einträge in das Geschichtbuech der Hutterer bereits ihrem Ende näherten, veröffentlichte Tieleman Jansz van Braght (1625–1664) im holländischen Dordrecht ein Martyrologium, das gemeinhin als Höhepunkt mennonitischer Hagiographie gilt: Het Bloedigh Toonel Der Doops-Gesinde, En Weereloose Christenen. 25 Jahre später erschien in Amsterdam eine zweite Auflage der erfolgreichen, auch in den mennonitischen Gemeinden in Deutschland (vor allem in Nordwestdeutschland) verbreiteten Sammlung in zwei Bänden, die mit 1290 doppelspaltigen Folioseiten noch umfänglicher ausgefallen war als die erste, zeigte sie doch zusätzlich 104 Kupferstiche von Jan Luyken (1649–1712). So beliebt das Martyrologium in Nordwestdeutschland auch gewesen zu sein scheint, eine deutsche Übersetzung erschien erst 1748 im „Kloster“ Ephrata in Pennsylvania, denn im Unterschied zu den Täufern in Emden oder Altona fiel es den Mennoniten-Immigranten aus Oberdeutschland und der Schweiz schwer, van Braghts Martyrologium in niederländischer Sprache zu lesen. Die Sammlung beginnt mit einem programmatischen Einleitungsteil, der neben van Braghts Geschichtstheologie auch drei mennonitische Glaubensbekenntnisse umfasst. Sie präsentiert dann in einem ersten Teil in chronologischer Reihenfolge Märtyrerinnen und Märtyrer von Christus bis Girolamo Savonarola, viel aus Tertullian und Eusebius, zitiert aber auch aus Sebastian →Francks Ketzerchronik und nicht zuletzt aus Caesar Baronius' Annales Ecclesiastici. Sie lässt daran anschließend einen kurzen Ausblick ins 16. Jahrhundert folgen und führt in einem zweiten Teil auf 821 doppelspaltigen Folioseiten schließlich wieder Märtyrerinnen und Märtyrer vor Augen: mehr oder weniger durchgängig unzweifelhafte und nach Auskunft ihrer Viten selbstverständlich auch untadelige Täufer-Heilige von den Anfängen der Täuferbewegung bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts, weiterhin in chronologischer Reihenfolge, 803 von ihnen namentlich. Die Viten stammen in vielen Fällen aus Het Offer des Heeren. Wie das Geschichtbuech versteht sich auch der Bloedigh Tooneel in erster Linie als Anleitung zur Buße und damit zum Glauben; das aber heißt auch: als Anleitung zur Sittsamkeit, als „Schulübung der Tugend“. In sehr viel stärkerem Maße aber als das hutterische „Dicke Buch“ betont van Braght, dass Leib und Seele „in dieser Zeit“ sehr viel größeren Gefahren ausgesetzt seien als in den blutigen und jämmerlichen Zeiten der Väter. Damals nämlich habe der Teufel noch mit offenen Karten gespielt, heute aber regiere der schöne Schein, wie an den übermäßig geschmückten Häusern und an der fremden Kleiderpracht, aber auch an den üppigen Mahlzeiten, überflüssigen Gastereien und bedenklichen „Handelschaften“ vieler Brüder und Schwestern unschwer zu erkennen sei. Van Braght entwirft sein Martyrologium also nicht als Medium des Trostes, jedenfalls nicht primär, sondern als Medium der Verinnerlichung kollektiver Leidenserfahrungen und damit als Instrument asketischer Seelen- und Lebensführung – und das ist auch keineswegs erstaunlich, denn nicht nur, dass die niederländischen und nordwestdeutschen Mennonitengemeinden schon lange keine Märtyrergemeinschaften mehr waren – in den nördlichen Niederlanden fand die letzte Täuferhinrichtung 1574, in den südlichen 1597 statt, – sie standen auch sozial und ökonomisch nicht mehr im Abseits. Im Gegenteil: Sie partizipierten (auch aktiv) am Wohlstand jenes „Goldenen Zeitalters“, das van Braght ihnen als niederländisches Babylon vor Augen führte. Fragt man nach dem geschichtstheologischen Weg, den van Braght wählt, um seine Brüder und Schwestern mit Hilfe der Exempel der standhaften Märtyrer Gottes wieder von Babylon nach Jerusalem zu führen, so ist es die „Successie der Kerke Gods“. Die Märtyrer, so van Braght nachdrücklich, sind die Kirche Gottes, die am Anfang der Welt entstanden sei, durch alle Zeiten existiert habe und bis ans Ende der Welt existieren werde. Nicht immer zeige sich die Kirche Gottes zwar in voller Gestalt und zeitweilig scheine sie geradezu unsichtbar zu sein. Nie aber sei sie ganz verschwunden gewesen. Wie eine „Rose unter den Dornen“ habe sie auch dunkle Zeiten überstanden, denn nur sie stamme „wahrlich“ vom Himmel ab, wie ihr „Personal“ ebenso erkennen lasse wie ihre Lehre, habe doch jeder, der sich der wahren Nachfolge in der Lehre rühme, diesen Anspruch aus den wahren Apostolischen Schriften herzuleiten. Dazu aber seien nur die „Taufgesinnten“ in der Lage, die von Anfang an die wahre Apostolische Lehre ebenso standhaft wie gewissenhaft „fortgepflanzt“ haben, was schon darin zum Ausdruck komme, dass das →Apostolische Glaubensbekenntnis ausschließlich von ihnen in Ehren gehalten worden sei.

6. Exklusivität vs. Kontinuität

Versucht man, Geschichtbuech und Bloedigh Tooneel zu vergleichen, so ist festzuhalten, dass beide zwar die moralische Erneuerung der Täufergemeinden in Zeiten des schönen Scheins anstrebten, dass sie dieses Ziel aber über einen je eigenen Vergangenheitsentwurf zu erreichen suchten. Während das Geschichtbuech ein „schöner Spiegel“ sein will, indem es die Entstehung der „Gemain“ in der Reformation als Entstehung gegen die Geschichte inszeniert, als radikale historische Zäsur, und auf diese Weise in ein sakrales Licht rückt, setzt der Bloedigh Tooneel wie seine lutherischen und reformierten Vorgänger auf lückenlose heroische Sukzession. Im Unterschied zum Geschichtbuech, das betont, dass der Geist Gottes im Laufe der Zeit nur wenigen zuteilwurde, legt er den Eindruck nahe, dass die Zahl der Erleuchteten auch in schweren Zeiten groß genug gewesen ist, um eine kontinuierliche heroische Genealogie und damit eine wahre Sukzession zu gewährleisten. Er ähnelt auch darin seinen protestantischen Vorgängern, obwohl van Braght durchaus zu erkennen gibt, dass der spirituelle Standard vieler Märtyrer und Märtyrergruppen der Sammlung zu wünschen übriglässt und damit auch die Verbindlichkeit der Glieder der wahren Sukzession variiert. Die geschichtstheologische Reformstrategie des Geschichtbuech akzentuiert die historische Exklusivität, jene des Bloedigh Tooneel die historische Kontinuität der Täuferbewegung. Beide berücksichtigen die Lebensbedingungen der Gruppen, die sie daran erinnern wollen, dass sie „Märtyrergemeinschaften“ waren. Sie reflektieren auf diese Weise nicht zuletzt auch den sozialen und kulturellen Assimilierungsgrad dieser Gruppen: Das Geschichtbuech setzt auf Exklusivität und kommt damit dem noch immer stark ausgeprägten Separatismus der Hutterer entgegen, der Bloedigh Tooneel auf Kontinuität und stärkt damit das Bewusstsein für die Gefahren des schönen Scheins, ohne eine gesellschaftliche Partizipation der Mennoniten grundsätzlich auszuschließen.

Bibliografie (Auswahl)

Quellen

Die älteste Chronik der Hutterischen Brüder. Ein Sprachdenkmal aus frühneuhochdeutscher Zeit, hg. von A. J. F. Zieglschmid, Ithaca/New York 1943. - Außbund Etlicher schoener Christlicher Geseng (…), Köln? 1583. - Tieleman Jansz van Braght, Het Bloedigh Tooneel der Doops-Gesinde, En Weereloose Christenen (…), Dordrecht 1660. - The Chronicle of the Hutterian Brethren, Bd. 1: Das große Geschichtbuch der Hutterischen Brüder, übersetzt und hg. von den Hutterischen Brüdern, Rifton/New York u. a. 1987. - „Elisabeth′s Manly Courage“. Testimonials and Songs of Martyred Anabaptist Women in the Low Countries, hg. von Hermina Joldersma und Louis Grip, Milwaukee 2001. - The Forgotten Writings of the Mennonite Martyrs (Documenta Anabaptistica 8), hg. von Brad St. Gregory, Leiden 2002. - Het Offer des Heeren (Bibliotheca Reformatoria Neerlandica 2), bearb. von Samuel Cramer, Den Haag 1904, 51–486.

Literatur

Peter Burschel, „Marterlieder“. Eine erfahrungsgeschichtliche Annäherung an die Martyrienkultur der Täufer im 16. Jahrhundert, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2001, 7–36. - Ders., Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004. - Ders., Zur Geschichtstheologie der Täufer, in: Archiv für Reformationsgeschichte 95, 2004, 132–154. - Claus-Peter Clasen, Anabaptism. A Social History, 1525–1618. Switzerland, Austria, Moravia, South and Central Germany, Ithaca/New York und London 1972. - Brad St. Gregory, Weisen die Todesvorbereitungen von Täufermärtyrern geschlechtsspezifische Merkmale auf?, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1997, 52–60. - Ders., Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe, Cambridge/Massachusetts und London 1999. - Ders., Anabaptist Martyrdom: Imperatives, Experience, and Memorialization, in: A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700, hg. von John D. Roth und James M. Stayer, Leiden 2007, 467–506. - Nicole Grochowina, „Het Offer des Heeren“. Das Martyrium als Heiligenideal niederdeutscher Täufer um 1570, in: Confessional Sanctity (c. 1500 – c. 1800), hg. von Jürgen Beyer u. a., Mainz 2003, 65–80. - Dies., Von Opfern zu Heiligen. Martyrien von Täuferinnen und Täufern im 16. Jahrhundert, in: Vorbild – Inbild – Abbild. Religiöse Lebensmodelle in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, hg. von Peter Burschel und Anne Conrad, Freiburg im Breisgau 2003, 121–150. - Marion Kobelt-Groch, Frauen in Ketten. „Von widertauferischen weibern, wie gegen selbigen zu handlen.“, in: Mennonitische Geschichtsblätter 47/48, 1990/1991, 49–70. - Dies., Mouldered Away in the Tower With the Fruit of the Womb? On the Treatment of Pregnant Anabaptist Women and Criminal Law, in: Women, Gender and Radical Religion in Early Modern Europe, hg. von Sylvia Brown, Leiden und Boston 2007, 219–241. - Robert Kolb, For All the Saints. Changing Perceptions of Martyrdom and Sainthood in the Lutheran Reformation, Macon 1987. - Ursula Lieseberg, Studien zum Märtyrerlied der Täufer im 16. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 1991. - Ethelbert Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 52, 1933, dritte Folge, 545–598.

Peter Burschel

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