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Evangelikalismus (in Nordamerika)

Die Adjektive „evangelikal“ und „evangelisch“ sind im deutschen Sprachraum nicht identisch. Während „evangelisch“ eine Bezeichnung der Kirchen geworden ist, die sich seit der Reformation des 16. Jahrhunderts von der römisch-katholischen Kirche abgesetzt haben, Staats-, Landes- und Freikirchen gleichermaßen, werden vor allem in Nordamerika „evangelikal“ jene kirchlichen Strömungen genannt, die quer durch einzelne →Denominationen die Vorherrschaft der traditionellen Richtung des amerikanischen Protestantismus zu sichern versuchen.

1. Anfänge evangelikaler Initiativen

Obwohl sich der zeitgenössische Evangelikalismus in Nordamerika im Laufe der Geschichte allmählich entwickelt hat, weist die evangelikale Bewegung heute eine deutlich moderne Erscheinungsform auf. Der Evangelikalismus wurde im 17. Jahrhundert von der reformierten Theologie der Puritaner Neuenglands geprägt und trägt auch ausgewiesene Züge der frühen Unabhängigkeit der →Baptisten. In den darauffolgenden Generationen nahm er einen starken independistischen, personalistisch orientierten Charakter in der Ersten und Zweiten Erweckungsbewegung an. Besonders nach den Erweckungen, die im frühen 19. Jahrhundert von Charles G. Finney (1792–1875) ausgingen, nahm er Züge personaler Frömmigkeit an, wie sie für den Pietismus bezeichnend sind, und bestand auf einer supranaturalen Beziehung der einzelnen Person zu Jesus als dem „persönlichen Erretter“. In der Zeit nach dem Bürgerkrieg wurde der Evangelikalismus vom Biblizismus und der Hoffnung auf das Tausendjährige Reich Jesu Christi stark beeinflusst, wie sie vom britischen Reformer John Nelson Darby (1800–1882) propagiert wurden. Seine spiritualistisch geprägte Vision von der reinen Kirche wurde zu einem beherrschenden Merkmal des evangelikalen Erbes. Dieser Akzent wurde in der Theologie C. I. Scofields (1843–1921) kodifiziert und stilisiert, die die Vorstellung von den Trübsalen vor dem Beginn des Tausendjährigen Reiches und die „Entrückung“ der Heiligen während der Wiederkehr Christi am Ende der Tage zum Dogma für die evangelikale Bewegung erklärte. Am besten repräsentiert wohl Dwight L. Moody (1837–1899) den evangelikalen Charakter dieser Generation. Er war ein weit anerkannter Evangelist und Begründer des Moody Bible Institute in Chicago, das bis heute einen tiefen Einfluss auf den Evangelikalismus ausübt. Er war theologisch konservativ im Sinne der Bible Conference mit einem einfachen, volkstümlichen Biblizismus, der sich über denominationale Verbände hinwegsetzte. Sowohl sein alles umfassender Geistals auch sein erweckliches Verhaltensmuster wurden für die folgenden Bekehrungskreuzzüge und für zahlreiche evangelikale Anführer, die in seinen Schulen ausgebildet wurden, repräsentativ.

2. Weitere Ausbreitung und Mission

Der Evangelikalismus weist verschiedene Gesichtszüge in den unterschiedlichen Perioden seiner Geschichte auf, doch in jedem Zeitalter waren sie der Ausdruck kultureller und theologischer Rechtgläubigkeit. Seine Losungsworte, wie „Erweckung“ (revival), „Erneuerung“ (renewal) und „Wiederherstellung“ (restoration), weisen auf diesen rechtgläubigen Charakter und die Berufung auf die Vergangenheit hin. Historisch gesehen repräsentiert er die Neigung des amerikanischen „Revivalism“, geistliche Erneuerung mit Hilfe der protestantischen Rechtgläubigkeit des 19. Jahrhunderts herbeizuführen. Er hat Gott und Nation sehr eng miteinander verbunden, indem er nationale Werte mit der christlichen Botschaft identifiziert und die politischen und militärischen Heldentaten des Landes rechtfertigt.

Die fundamentalistische Bewegung des frühen 19. Jahrhunderts begann, den Versuch zu unternehmen, theologische Rechtgläubigkeit wiederherzustellen und Kirchen zu errichten, die frei von gelehrter Kritik und liberaler Sozialpolitik sind. Doch um 1942 führten Spannungen in der Bewegung zu einer Trennung von strikten Fundamentalisten und „Neu-Evangelikalen“ (neo-evangelicals). In jenem Jahr wurde die National Association of Evangelicals gegründet, die Zeichen für eine neue expansivere, dennoch solide konservative Theologie der Bewegung setzte. Carl F. H. Henry´s (1913–2003) Buch The Uneasy Conscience of Fundamentalism (1947) stimmte den neuen Schlachtruf an, und mit der Gründung des Fuller Theological Seminary (Pasadena, Cal.) wurde das neue Trainingslager für die Bewegung bereitgestellt.

Der zeitgenössische Evangelikalismus, der aus dem Fundamentalismus direkt hervorgegangen war, bestand zwar immer noch auf der Rechtgläubigkeit der Theologie, legte aber den Akzent stärker auf das persönliche Erlebnis des „Friedens mit Gott“. Das war ein Anliegen, das später in den Großveranstaltungen Billy Grahams (geb. 1918) zu einer gewissen Berühmtheit gelangt war. Der Nachdruck, der auf das individuelle Erlebnis sine qua non gelegt wurde, spiegelt die Tendenz wider, die Bedeutung der Theologie und der Denomination für die Herausbildung christlicher Identität und die Verbindlichkeit der Praxis einzuschränken. Das wurde zum Erkennungszeichen zwischen dem Fundamentalismus und Evangelikalismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts; und da beide Bewegungen einander überschnitten und nicht an eine Denomination gebunden waren, bestehen strenge Fundamentalisten immer noch auf der Notwendigkeit, sich von den Denominationen und Kirchenführern zu trennen, die als liberal eingeschätzt wurden.

Der amerikanische Evangelikalismus versteht sich nicht als eine ökumenische Institution. Wie Marc Noll (geb. 1946) in The Scandal of the Evangelical Mind schreibt, „ist er (der Evangelikalismus) stets aus wechselnden Bewegungen, vorübergehenden Bündnissen und dem verlängerten Schatten einzelner Anführer zusammengesetzt gewesen“. Er ist nicht interdenominational, wohl aber ein kooperatives Netzwerk von Einzelnen, Kirchen und Institutionen (gelegentlich als „Parakirche“ bezeichnet), die sich für Evangelisationsversammlungen, rechtgläubige Theologie und evangelikalen Schulunterricht, missionarische Ausbreitung, Veröffentlichung evangelikaler Literatur, Programme zur Verstärkung christlicher Ideale für die Familien, kulturellen und politischen Konservatismus und Widerstand gegen die Säkularisierung und den moralischen Verfall in der Gesellschaft einsetzten. Denominationen wie die lutherische Missouri Synode, die Southern Baptists und die Pentecostal Holiness gehören der National Association of Evangelicals an, aber sie arbeiten nur mit und sind keine ökumenischen Partner. Ihre politische Aktivität beschränkt sich auf diese Ziele, hat aber in den letzten Jahrzehnten unter Pat Robertson (geb. 1930) und dem kürzlich verstorbenen Jerry Falwell (1933–2007) immer mehr von sich reden gemacht, deren Universitäten auf selbstbewusste Weise Juristen und politisches Personal ausbilden. Sie legen den Akzent auf den individualistischen im Gegensatz zum sozialen Aspekt des Evangeliums. Sie arbeiten in der Gefängnisseelsorge, in missionarischen Hilfswerken und in der Politik. Dort ist ihre Strategie bewusst darauf gerichtet, die Seelen einzelner Personen zu befreien und zu retten.

3. Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert

Für die Evangelikalen bedeutet ein Christ zu sein, nicht mit der Mitgliedschaft in einer Kirche oder mit dem Bekenntnis zu theologischer Rechtgläubigkeit gleichgesetzt zu werden, und dieser Nachdruck, der auf das subjektive Erlebnis und einen ihn begleitenden einfachen Biblizismus gelegt wird, ermöglicht es, dass viele unter dem evangelikalen Schirm Platz finden können. Im Klima des Pluralismus, der heute in Amerika herrscht, vermag der Evangelikalismus eine große Variationsbreite orthodoxer Identitätsbildung anzubieten: von Pentacostal Holiness und charismatischen Gemeinschaften zur Evangelical Theological Society, in der immer noch das Thema biblischer Irrtumslosigkeit diskutiert wird, von denjenigen, die auf einer „übernatürlichen neuen Geburt“ als Bedingung für echte Gemeinschaft bestehen, zu Gruppen, wie den Sojourners in Washington D. C., die sich mit Nachdruck auf die Nachfolge Christi konzentrieren, was sich in dem sozialen und politischen Engagement für die Armen zeigt, und von den traditionellen separatistischen Fundamentalisten zu solchen wie Brian McLaren (geb. 1956), die eine „neue Art des Christentums“ in der Emergent Christianity Movement predigen. Einige Evangelikale sind bereit, in politischen und moralischen Angelegenheiten mit römischen Katholiken und anderen rechtsgerichteten Kräften zusammenzuarbeiten.

Seit den letzten Jahrzehnten hat der Evangelikalismus unter erheblichen Unruhen und Trennungen gelitten, und es ist im Augenblick schwer, ihn in institutioneller oder bekenntnismäßiger Begrifflichkeit genau zu fassen. Die alte Frage nach der sola scriptura und Autorität halten sich noch im Zentrum der Bemühungen. Die sogenannte Religiöse Rechte besteht mit ihren eher engen moralischen und politischen Vorsätzen und ihrem kulturellen Konservatismus weiterhin auf festgelegten Normen des sola scriptura, während diejenigen, die zu Kreisen der Emergent Christianity gehören, versuchen, die biblische Autorität in der Glaubensgemeinschaft zu begründen. Es ist noch nicht ausgemacht, ob und in welchem Maße die strengere Richtung der Evangelikalen sich auf die gemäßigte einstellen wird.

Historiker des Evangelikalismus schließen gewöhnlich die Mennoniten mit ein, wenn sie die Gruppen nennen, die zur evangelikalen Bewegung gehören. Doch mit Ausnahme der Evangelical Mennonite Church, den Mennonite Brethren der USA und den Brethren in Christ gehören die Mennoniten nicht zur National Association of Evangelicals. Im frühen 19. Jahrhundert neigten Kirchenführer wie John Horsch (1867–1941) und Daniel Kauffman (1865–1944) dazu, sich mit den theologischen Positionen der Fundamentalisten zu identifizieren, auch wenn sie sich deren Engagement für militärische Einsätze ihrer Regierung widersetzten. Glaubensbekenntnisse, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts veröffentlicht wurden, nutzten fundamentalistische Begrifflichkeit, und als die evangelikale Bewegung sich in ihre neo-evangelikale Phase hinein entwickelte, schlossen sich Mennoniten ihnen in der Regel an. Das Mennonitische Glaubensbekenntnis von 1963 berichtigte auf selbstbewusste Weise einige fundamentalistische Sprachregelungen der Christian Fundamentals von 1921, und das gemeinsame Bekenntnis der General Conference Mennonites und der Mennonite Church (1995) hat sich für eine konservative, aber nicht fundamentalistische Einstellung für die Mennonite Church USA entschieden. Das wachsende Bewusstsein für die Wurzeln im Täufertum des 16. Jahrhunderts führte täuferische Kirchenführer dazu, eine kritischere Stellung einzunehmen, besonders zum Verhältnis der Kirche zur Mission als einem gewaltlosen Zeugnis in der Gesellschaft. Das hat jedoch zu einer Spaltung in der mennonitischen Identität geführt, da kleinere Gruppen weiterhin darauf bestanden, am fundamentalistischen Biblizismus festzuhalten.

Bibliografie (Auswahl)

Donald W. Dayton und Robert K. Johnston (Hg.), The Variety of American Evangelicalism, Downers Grove, Ill., 1991. - Norman F. Furniss, The Fundamentalist Controversy, 1918–1931, New Haven, Con., 1954. - Carl F. H. Henry, The Uneasy Conscience of Fundamentalism. Grand Rapids, Mich., 1947. - James Davidson Hunter, American Evangelicalism: Conservative Religion and the Quandary of Modernity, Brunswick, NY, 1983. - Ders., Evangelicalism the Coming Generation, Chicago 1987. - C. Norman Kraus, Dispensationalism in America: Its Rise and Development, Richmond, Va., 1958. - Ders. (Hg.), Evangelicalism and Anabaptism. Scottdale, Pa., 1979. - Howard John Loewen, One Lord, One Church, One Hope, and One God: Mennonite Confessions of Faith. Elkhart, Ind., 1985. - George M. Marsden, Reforming Fundamentalism: Fuller Seminary and the New Evangelicalism, Grand Rapids, Mich., 1987. - Ders. (Hg.), Evangelicalism and Modern America, Grand Rapids, Mich., 1984. - Briand D. McLaren, A New Kind of Christianity: Ten Questions that are Transforming the Faith, New York, NY, 2010. - Mark Noll, The Scandal of the Evangelical Mind. Grand Rapids, Mich., 1994. - Phyllis Tickle, The Great Emergence: How Christianity is Changing and Why, Grand Rapids, Mich., 2008. - David Wells und John Woodbridge (Hg.), The Evangelicals, Nashville, Tenn., 1975.

C. Norman Kraus

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