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Identität, (mennonitische)
Unter Identität (lat. idem, derselbe, dasselbe; das Substantiv „identitas“ gewöhnlich mit „Selbigkeit“ übersetzt) wird das unverwechselbar Eigene einer Person, einer Gruppe oder einer Sache verstanden. Identität war zunächst ein Problem der Philosophie (Logik und Identitätsphilosophie, s. Kern, Art. Identität, 1968). Da inzwischen die Einsicht gewachsen ist, dass sich mit diesem Begriff komplexe Tatbestände menschlicher Zivilisation aufschlüsseln lassen, sind an der Erforschung von Identität zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen beteiligt: Soziologie, Psychologie, Geschichts- und Literaturwissenschaft, Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft. Im Begriff der „Identität“ wird traditionellerweise sein Gegenbegriff „Differenz“ mitgedacht; und das erinnert daran, dass Identität nicht ein für alle Mal festgelegt ist, sondern immer erst noch entsteht: in der Begegnung mit dem Anderen oder aus der Spannung von Eigenem und Fremdem. Sobald die Situation sich verändert (andere Zeiten, andere Räume, andere Menschen), gerät die wahrgenommene Identität wieder unter die erwähnte Spannung und muss aufs Neue gesucht werden. So wird sie zu einem Begriff, der einen unaufhörlichen Prozess der Selbstverständigung bis an das Ende der Geschichte beschreibt. „Das Selbst kann nur werden und sein im bleibenden Durchgang durchs Andere“ (Kern, Art. Identität, Sp. 790). In diesem Begriff reflektiert sich Konstanz und Wandel, Kontinuität und Diskontinuität, Bleibendes und Vergehendes, schicksalhaft Überkommenes und selbstbewusst Konstruiertes. Im theologischen Denken wird dieser Begriff zur Chiffre für die Wanderschaft (peregrinatio) des Glaubenden durch die Welt (Differenz) in das Reich Gottes (Identität).
Über „mennonitische Identität“ wird erst seit einigen Jahrzehnten nachgedacht. Ein entscheidender Impuls ging dabei von einer interdisziplinär angelegten Konferenz aus, die 1986 an das Conrad Grebel College in Waterloo (Kanada) einberufen wurde und die ihren literarischen Niederschlag in Mennonite Identity. Historical and Contemporary Perspectives (1988) fand. Die Problematik, die sich mit dem Begriff der Identität verbindet, ist jedoch älter und wurde bisher unter anderen begrifflichen Konzepten erörtert: Konfessionelles Selbstverständnis, Gruppenbewusstsein, kulturelle und gesellschaftliche Anpassung bzw. Akkulturation.
1. Methodischer Zugang zu mennonitischer Identität
Inzwischen hat sich das Problembewusstsein so stark vertieft und erweitert, dass die Frage nach dem Eigenen des Mennonitentums nicht mehr mit den herkömmlichen Begriffen beantwortet werden kann. Diese Frage entsteht in einer vielschichtigen religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Situation und verlangt nach einem Begriff, der dieser Situation Rechnung zu tragen vermag. Je länger, je mehr hat sich dafür der in Psychologie und Soziologie eingeführte Begriff der „Identität“ angeboten.
Um einen methodischen Zugang zur Identitätsproblematik zu finden, haben Donald B. Kraybill und Calvin W. Redekop einen wissenssoziologischen Ansatz vorgeschlagen (Mennonite Identity, 1988). Sie gehen davon aus, dass Ideen in einem bestimmten sozialen Umfeld entstehen, aufeinander wirken und in ihrer Interaktion für einen Wandel des gesamten „Systems“ (Gemeinde, Kirche, Konfession) sorgen (Redekop, The Sociology of Mennonite Identity, 189). Es sind also nicht religiöse oder theologische Ideen allein, die einen Wandel in der Kirche herbeiführen, es sind auch nicht die sozialen Strukturen, die sich von alleine verändern. Was eine Veränderung bewirkt, ist die Interaktion von Idee und Struktur. Das gilt nicht nur für die Entstehung reformatorischer Bewegungen, wozu die Bewegungen der →Täufer im 16. Jahrhundert zählen, sondern auch für die weitere Entwicklung dieser Bewegungen in Gruppen, Gemeinschaften und Gemeinden. Sie bleiben sich über die Jahrhunderte hin nicht gleich, sondern verändern sich in mehr oder weniger deutlich wahrnehmbaren Schüben: von verfolgten Bewegungen zu geduldeten Gemeinschaften oder Gemeinden, von Gruppierungen am Rande der Gesellschaft, denen die allgemeinen Bürgerrechte vorenthalten wurden, zu gesellschaftlich anerkannten Staatsbürgern, von „Winkelsekten“, wie sie oft verächtlich genannt wurden, zu Freikirchen und gleichberechtigten Partnern im ökumenischen Gespräch der Kirchen in der Gegenwart. Wenn es ein allgemeines Merkmal der Geschichte ist, dass sich alles, was geworden ist, immer wieder ändert, dann stellt sich die Frage nach der Identität des Mennonitentums beispielsweise in jeder historischen Situation neu. Allerdings wird es Zeiten geben, in denen sich diese Frage nur schwach zu Wort meldet, dann aber wieder Zeiten, in denen sie sich übermächtig aufdrängt und zu einer Frage von Sein oder Nichtsein steigert. Als eine besonders bedrängende Frage muss sie empfunden worden sein, als die Gemeinden genötigt wurden, bisher eingefahrene Wege des Glaubens und Handelns zu verlassen (Übergang zur →Moderne), oder als nordamerikanische Mennonitengemeinden von religiösen Strömungen überfremdet wurden, die als „Revivalism“, „Fundamentalism“ oder „Liberalism“ das Leben der Gemeinden teilweise von Grund auf veränderten. Dass in solchen Zeiten nach der eigenen Identität gefragt wurde, ist verständlich. Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel der Erweckung: „Protestant revivalist theology drove a wedge, unnatural for Mennonites, between salvation and ethics. A life style centred upon the virtues of humility and nonresistance, once the core of the Mennonite way, was detached from a revivalist influenced formulation of grace and salvation“ (Juhnke, Mennonite History and Selfunderstanding, 91). Die Erweckungsbewegung hat die Frömmigkeit in zahlreichen Mennonitengemeinden Nordamerikas von Grund auf verändert. Ganz anders, doch strukturell vergleichbar, hat der Geist des Nationalismus das Leben der deutschen Mennoniten erfasst und dazu beigetragen, dass sie sich dem politischen Einfluss des Nationalsozialismus öffneten (→Nationalismus, →Drittes Reich). Auch hier trafen äußere Einflüsse mennonitische Identität nicht an den Rändern, sondern in ihrem Kern.
Ein anderes Beispiel ist das Bewusstsein, in ethnisch getrennten Mennonitengemeinden schweizerisch-pfälzischer und niederdeutsch-russländischer Herkunft in Nordamerika zu leben, und die Erfahrung, dass sich der ethnische Charakter der mennonitischen Gemeinden dort aufzulösen begonnen hat. Angefochten wurde die Identität der nordamerikanischen Mennoniten dadurch, dass der vorherrschend ländliche Charakter des Gemeindelebens von der Abwanderung zahlreicher Gemeindeglieder in die Städte durch urbane Sozialisationsformen geschwächt wurde und neue Identitäten entstanden. Ein Farmer in der Prärie glaubt anders als ein Rechtsanwalt in New York oder ein Hochschullehrer in Los Angeles. Das war und ist eine Entwicklung, die nicht immer begrüßt wird, sondern in weiten Kreisen auch die Sorge um den Zusammenhalt der Mennoniten wachgerufen hat. Die Grenzen zwischen den Mennonitengemeinden und anderen kirchlichen Denominationen sowie der säkularen Gesellschaft sind immer durchlässiger geworden, und der einst begrüßte Pluralismus Nordamerikas mit seiner Garantie religiöser Freiheit kann inzwischen auch als Gefahr für den Bestand der eigenen Gemeinden empfunden werden. So sind es theologische und soziale Veränderungen gewesen, die ein Krisenbewusstsein erzeugt und die Frage nach der Identität der eigenen Kirche mit gesteigerter Intensität aufgeworfen haben (Mennonite Identity, 1988, Introduction). Dass auf diese Frage sehr unterschiedlich geantwortet werden kann, zeigen die autobiographischen Äußerungen leitender Mennoniten (Loewen (Hg.) Why I am a Mennonite, 1988; dt.: Warum ich mennonitisch bin, 1996) oder Konzepte mennonitischer Identität, die von mennonitischen Theologen, Historikern oder Soziologen entwickelt wurden.
2. Mennonitische Identitätskonzepte
Wer nach der Identität seiner Glaubensgemeinschaft fragt, wird in der Regel auf die Geschichte zurückgreifen und in den Anfängen seiner Kirche nach Merkmalen suchen, aus denen sich das Eigene und Besondere seiner Gemeinschaft zusammensetzt; und er wird weiter danach fragen, ob diese Gemeinschaft sich im Laufe nachfolgender Jahrhunderte gleichgeblieben ist. So schrieb Rodney J. Sawatzky beispielsweise über American Mennonite Identity Definition through History (Untertitel von Sawatsky, History and Ideology, 2005) und diskutierte ausführlich die berühmte Abhandlung Harold S. Benders über Anabaptist Vision (1943), die als ein Paradebeispiel für den historischen Rückbezug konfessioneller Identität gelten kann.
(1) Harold S. →Bender hat die Identitätsmerkmale des Mennonitentums, das er vertrat, im frühen Schweizer Täufertum ausfindig gemacht und mit den Begriffen „Nachfolge Christi“, „Gemeinde der Brüder“ und „Liebe“ (Feindesliebe und Wehrlosigkeit) bezeichnet. Die Täufer, die sich im Januar 1525 von Ulrich Zwingli trennten, stellen als die reinste und ursprünglichste Form des Täufertums den Maßstab dar, an dem alle zeitgenössischen und nachfolgenden Bewegungen, Gruppen und Gemeinschaften gemessen wurden. „Das erstgenannte und eigentliche Täufertum erhielt sich ungebrochen in der Schweiz, Süddeutschland, Österreich und Holland durch das ganze sechzehnte Jahrhundert und setzte sich bis zum heutigen Tage in der mennonitischen Bewegung fort, die heute in Europa und Amerika fast 400 000 getaufte Glieder umfasst“ (Bender, Das täuferische Leitbild, 37). Auf der einen Seite wurden alle mystisch, apokalyptisch oder revolutionär orientierten Täufer aussortiert und auf der anderen Seite alle Mennoniten, obwohl sie sich gravierender Unterschiede im Selbstverständnis bewusst waren, unterschiedslos der „Anabaptist Vision“ zugeordnet. Die Identität dieser Täufer und Mennoniten wurde nicht nur zu einer zeitübergreifenden, sondern unbeschadet ihrer partikularen Herkunft aus der „Mennonite Church“ in Nordamerika auch zu einer universal geltenden Norm erhoben. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die „Anabaptist Vision“ mehr ein Ideal täuferischer Identität darstellt, als dass sie auf dem beschwerlichen Weg der Täufer und Mennoniten durch die Zeiten auch realiter gelebt worden wäre (Sawatsky, History and Ideology, 134). So hat sich ein einseitig theologisch konzipiertes Identitätskonzept nicht bewährt, zumal sich Ideen, die ihre Verwirklichung anstreben, kaum in ihrem ursprünglich gemeinten, reinen Sinn verwirklichen, sondern nur in einer defizitären Gestalt.
(2) Ein anderes Identitätskonzept orientiert sich am Kriterium der Ethnizität. James C. Juhnke spricht von einer Bipolarität des nordamerikanischen Mennonitentums und meint, dass die sozialen Erfahrungen der Mennoniten schweizerisch-deutscher Herkunft in Nordamerika andere waren als diejenigen der Mennoniten holländisch-westpreußisch-russländischer Herkunft und ganz entscheidend für die Ausbildung unterschiedlicher, sich in den nordamerikanischen Pluralismus einfügenden Identitäten gesorgt haben. (Juhnke, Mennonite History and Selfunderstanding, 83–99). Andererseits kann Juhnke auch beobachten, dass es einen theologischen Austausch zwischen beiden ethnischen Gruppierungen gab, so dass das Kriterium der Ethnizität eigentlich nicht ausreicht, um die mennonitische Identität bestimmen zu können (Sawatsky, Beyond the Social History of the Mennonites, 102).
Am Leitfaden ethnischer Tradition hat auch Donald B. Kraybill die Probleme mennonitischer Identität in Nordamerika untersucht. Er geht davon aus, dass das Mennonitsein („Mennonite experience“) eine „ethnische Erfahrung“ sei, die sich über einen ausschließlich religiösen Charakter hinaus vor allem auch einen deutlich kulturellen Ausdruck verschafft (Kraybill, Modernity and Identity, 157). Darin vereinigt sich das Wissen um eine gemeinsame Geschichte, eine kollektive Biographie, ein kulturelles Erbe, das von Generation zu Generation weitergetragen wird, und ein gemeinsames Schicksal, das die Mennoniten über die genuin religiöse Erfahrung hinaus zusammenschweißt (157). Kulturelle und religiöse Erfahrung machen die ethnische Identität aus, aber die kulturelle Erfahrung ist nicht weniger wichtig gewesen als die religiöse. Es legt sich sogar der Eindruck nahe, dass die kulturellen Erfahrungen der Identität ihren nachhaltigen Impuls verliehen haben. Allerdings ist die ethnische Identität in diesem Konzept nicht ein für alle Mal festgelegt oder zementiert, sondern eine durchaus wandelbare Identität. So unterscheidet Kraybill beispielsweise eine vormoderne von einer modernen ethnischen Identität. Mit moderner Identität meint er aber nicht das Aufgehen der Mennonitengemeinden in die Vorstellungs- und Wertewelt der Moderne, sondern nur eine Art Formveränderung der traditionellen Identität – beispielsweise zur Abstraktion (statt Konkretion), zur geschichtlichen Vermittlung (statt Unmittelbarkeit), zur Komplexität (statt Einfachheit) und Rationalität (statt Traditionalität). Diese Formveränderung liefert sich nicht an die Moderne aus, sie bringt nur zum Ausdruck, dass sich der ursprüngliche täuferische Separatismus (Trennung von christlicher Gemeinde und Welt) auf die Grenzen neu einstellen musste, die sich mit der Moderne für die Gemeinden verändert bzw. verschoben haben. Was aber bleibt, ist die Trennung (separation), allerdings „no longer in the guise of dress, language and land, but seperate institutional structures and ideological particularism which serve to maintain Mennonite identity in the face of modernity“ (172). Mit dem Vorschlag ethnischer Identität, so ist gelegentlich eingewandt worden, schlägt das Pendel von der theologischen zur kulturellen Seite extrem weit aus, so dass die selbstständige Wirkkraft des Religiösen, die auch die ethnische Gestalt einer Kirche zu zerbrechen oder zu überwinden in der Lage ist, nicht ausreichend zur Geltung gebracht wird (Redekop, The Sociology of Mennonite Identity, 173 f., 188–192).
(3) Calvin W. Redekop bestreitet, dass das Eigene des „mennonitischen Phänomens“ mit dem Konzept der ethnischen Identität gefasst werden könne, da dieses Phänomen sich im Grunde nicht als eine „ethnische Gruppe“ darstellt, sondern als eine „utopische Bewegung“, die aus der Spannung von religiöser Idee und kulturellem Ausdruck lebt (Redekop, The Sociology of Mennonite Identity, 173–192). In dieser Bewegung, sofern sich ihre Impulse auch noch in den institutionalisierten Formen des Mennonitentums erhalten haben (→Bewegungen), wird mehr angestrebt, als unter den Bedingungen des Irdischen verwirklicht werden kann. Dabei handelt es sich nicht um eine ausgearbeitete Utopie wie bei Thomas Morus, Johannes Bünderlin oder Hans Hergot, sondern eher um eine in der allgemeinen Aufbruchssituation der frühen Reformationszeit entstandene „utopische Intention“ oder „Utopian Dynamic“ (S. 176), die die Täufer über das Bestehende und jeweils zu Erreichende hinaustrieb (Utopie) und deutlich werden ließ, dass sie nicht mehr von dieser Welt sein wollten (→Absonderung). Was im theologischen (1) und ethnischen Identitätskonzept (2) voneinander getrennt wurde, wird in diesem Konzept bewusst zusammengehalten. Die utopische Intention entstand im sozialen und kulturellen Bereich und war darauf aus, diesen Bereich auf die Vollendung im Reich Gottes hin zu verändern. Die Mennoniten rechneten mit Impulsen aus der Lektüre der Heiligen Schrift, dem Glauben und dem gemeinsamen Leben, die gerade die ethnische Geschlossenheit der mennonitischen Gemeinden aufzusprengen in der Lage waren und ihnen das Bewusstsein vermitteln, das „Volk Gottes“ zu sein, das dem Reich Gottes entgegengeht. So lässt sich im Anschluss an das Identitätskonzept Redekops sagen, dass die Identität sich in leidvoller Konfrontation bis zum →Martyrium mit Anderen und Fremden ihren Ausdruck in der universalen Erwartung der Gemeinden verschafft, in alle Wahrheit geführt zu werden (Joh. 16,13).
3. Identität als Problem der systematischen Theologie
„Identität“ ist nicht nur ein Problem der Geschichte (Kirchengeschichte) und der Soziologie (Religionssoziologie), wie die Deutungskonzepte mennonitischer Identität zeigen, sondern auch ein Problem der Philosophie und der systematischen Theologie. Um so mehr überrascht, wie selten dieses Problem in den Lehrbüchern der Dogmatik und Ethik thematisiert wird.
(1) Paul Tillich ist einer der wenigen, der sich im Anschluss an die Philosophie Friedrich Wilhelm Joseph Schellings mit dem „Prinzip der Identität“ beschäftigt hat und später in seiner Systematischen Theologie beispielsweise beschreibt, wie sehr die allgemeine Erfahrung der Veränderung den Menschen in äußerste Existenzangst versetzt, denn jede Veränderung offenbart das „relative Nichtsein“ dessen, „was sich verändert“, und „die Erfahrung des Sterbenmüssens“ nimmt jetzt schon den „völligen Verlust der Identität mit sich“ vorweg. In dieser Erfahrung stellt sich die Frage nach dem Mut ein, „das Endliche zu bejahen“. Die Frage nach dem Mut, „der die Angst des Nichtseins auf sich nimmt“, ist letztlich, wie Tillich meint, die Frage nach Gott. Sie ist die Frage nach „der Möglichkeit dieses Mutes“ (Tillich, Systematische Theologie, Bd. 1, 131 f.). So zeigt sich, dass das Problem der Identität nicht irgendein Problem, sondern ein Grundproblem der Theologie ist. Der Glaubende findet im Unbedingten der göttlichen Offenbarung, die sich im Bedingten (Kultur) Ausdruck verschafft, seine Identität (Tillich, Religionsphilosophie, 52). Auf diese Weise ist er – wie das Reich Gottes – nicht „von dieser Welt“ (Joh. 18, 36), er ist eine „neue Kreatur“ (2. Kor. 5, 17).
(2) Auf die Frage, „wie ein Mensch identisch mit sich selber werden könne“, gibt Dorothee Sölle in ihrem Buch über Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem „Tod Gottes“ (1965, 7), wohl der geschlossensten theologischen Abhandlung zur Problematik der Identität, eine christologisch begründete Antwort. Wenn es einen Sinn hat, von der Menschwerdung Gottes zu reden, muss die Antwort nach dem Selbst des Menschen in Christus zu suchen sein. In ihm findet der Mensch seine Identität, doch nicht in aller Endgültigkeit, sondern nur vorläufig. Jesus Christus vertritt den Menschen vorläufig vor Gott, bis dieser im Reich, in dem Wahrheit und Freiheit endgültig sein werden, seine „Stelle“ erhält, d. h. zu seiner eigenen Identität gelangt, zu der Identität, aus der heraus Jesus Christus die Kraft geschöpft hat, sich mit den Menschen zu identifizieren, ja, sich ihm auszuliefern, für ihn Leiden und Tod auf sich zu nehmen (S. 165–171). Jetzt noch gilt es, die Spannung zwischen Nichtidentität und Identität auszuhalten. „Aber diese Nichtidentität wird ihrer selbst inne erst an jener Identität, die Christus vorauslaufend darstellt“ (S. 142). So erhält die Identität eine eschatologische Deutung. Eschatologisch heißt: „Im vorläufigen Christus ist das Reich Gottes zugleich da und noch nicht da“ (S. 147). Die noch ausstehende Identität, d. h. die Spannung zwischen Nichtidentität und Identität, eröffnet dem Menschen Zukunft und lässt ihn darauf hoffen, zu sich selbst zu kommen. Sie läßt ihn die Zeit bis dahin als „Aufschub“ verstehen, nicht als ein lästiges Warten auf das Reich Gottes, sondern als eine Zeit der Gnade, in der die Kirche nun ihrerseits die Welt vor Gott vertritt. Das aber heißt, dass die Kirche für den Gott offen ist, „der identisch wird mit sich selber in der Welt“ (S. 150), und dass sie einen Gott ankündigt, der geduldig auf die Welt wartet und ihr auf diese Weise eine Zukunft eröffnet. Doch Christus vertritt nicht nur die Menschen vor Gott, sondern auch Gott bei den Menschen (S. 175). Er hält Gott die Stelle frei, bis Menschen sich ihm zuwenden werden. So wird Christus zum Zukunftsträger für die Welt – und mit ihm wird Gott von allen vertreten, die dem voraus laufenden Christus nachfolgen, „indem sie ihm – und das heißt zugleich denen, die ihn brauchen – Zeit lassen“ (S. 184). Der „Aufschub“ gilt allen – Gott und Welt – als Chance für eine bessere Zukunft.
(3) Als ein Grundproblem der Theologie stellt sich „Identität“ auch in der Theologie der Hoffnung dar, in der Jürgen Moltmann sie eschatologisch deutet. Die eschatologische Hoffnung wird „zu einer geschichtlichen Triebkraft für schöpferische Utopien der Liebe zum leidenden Menschen und seiner ungelungenen Welt der unbekannten, doch verheißenen Zukunft Gottes entgegen“ (Moltmann, Theologie der Hoffnung, 334). Moltmann nimmt zwar den Begriff des Philosophen Ernst Bloch von der „Heimat der Identität“ auf, die noch nicht ist. Er kritisiert aber die Vorstellung, dass Blochs Zukunftserwartung in den utopischen Bildern eingeschlossen bleibt und das „Wunder der Auferstehung vom Tode und die Neuschöpfung“ (S. 322) nicht wahrnimmt. Mit dieser eschatologischen Hoffnung, die solche verhärteten utopischen Hoffnungsbilder stürmt, wird die Identität, also das, was die christliche Existenz eigentlich ausmacht, in die Zukunft Gottes verlegt und erhält eine andere, eine neue Qualität: Sie wird zu einer „'Heimat der Versöhnung' in neuer Schöpfung aus dem Nichts“ (S. 326).
(4) Der Gedanke von der Identität, die unverfügbar ist, spielt auch in der Aufsatzsammlung, die der mennonitische Theologe Chris K. Huebner unter dem Titel A Precarious Peace (2006) vorgelegt hat, eine Rolle: „Dislocating Identity“ (dritter Teil). Wichtig ist hier vor allem die Verbindung, die zwischen Martyrium und Identität hergestellt wird. Im Hinblick auf das Reich Gottes zeigt sich im Martyrium eine neue Ordnung, die auf eine Kultur „jenseits der Standardoptionen von Gewalt und Kontrolle“ hinweist (S. 196), und die Identität christlicher Existenz als ein unverfügbares Geschenk versteht, das nur auf angemessene Weise empfangen worden ist, wenn auf jede Neigung, es zu kontrollieren, verzichtet wurde. Eine solche Auffassung setzt ein Volk voraus, das in der Kultur nicht eine Einrichtung sieht, um sich fortwährendes Überleben zu sichern, sondern nur ein „wohltätiges Zwischenspiel des Andersseins (a charitable interplay of differences)“ (S. 197). Mit anderen Worten: Christliche Identität lebt aus eschatologisch verstandener Differenz zur Welt.
(5) Hier findet John H. Yoders Begriff der „partikularen Identität“ ein Schülerecho. Diese Identität, eigentlich ein seltenes Stichwort in seinen Büchern und Aufsätzen, wurzelt zunächst soziologisch in der Tradition einer kirchlichen Minderheit, die als „messianische Gemeinschaft“ eine eschatologische Bedeutung erhält, insofern sie an dem neuen Äon teilhat, der mit der Menschwerdung und dem Werk Jesu in die Geschichte einzubrechen begann und seiner Vollendung im Reich Gottes entgegen geht (Yoder, Original Revolution, 58; Hess, Traumatic Violence, 213, wo auf die mögliche Vermittlung zwischen individueller und korporativer (gemeindlicher) Identität hingewiesen wird). Letztlich ist es das geschlachtete Lamm nach der Vision des Sehers von Patmos (Offb. 5), dem die Macht Gottes übertragen wird und in dem die Identität der Nachfolger Christi, die deshalb auf jeden Machtgebrauch verzichten können, jetzt schon ruht (Yoder, Die Politik Jesu, 205–219, ders., Theological Revision, 63–94).
4. Identität und die Frage nach der Einheit der Kirchen
In der ökumenischen Diskussion spielt der Identitätsbegriff noch keine profilierte Rolle (→Ökumenische Bewegung). Er wird zwar erwähnt und benutzt, ist aber für weiterführende Gespräche theoretisch noch nicht überzeugend ausgearbeitet worden. Das ist um so erstaunlicher, als gerade von einem konfessionellen Identitätskonzept der Kirchen viel für einen Fortschritt im Ringen um kirchliche Einheit abhängt, denn es ist inzwischen deutlich geworden, dass eine Diskussion auf dem Gebiet der kirchlichen Lehre allein nicht ausreicht, um einen Beitrag zur Überwindung der kirchlichen Trennungen in der Christenheit zu leisten. Das komplexere Indentitätsverständnis, das neben doktrinären Aussagen auch Frömmigkeitstraditionen, kulturelles und soziales Milieu ebenso wie ethnische Herkunft einschließt, vermag da mehr Erfolg zu versprechen. Zu Recht wurde darauf verwiesen, dass es bei der Suche nach konfessioneller Identität nicht nur um die Beschäftigung mit dem Eigenen und Vertrauten gehen könne, sondern das Eigene sich nur im Dialog oder in Konfrontation mit dem Anderen und Fremden zu erkennen gibt (Heller (Hg.), Bekehrung und Identität, 2003). Gleichzeitig ist auf die eschatologische Dimension der Identitätsproblematik zu achten, die jede Konzentration der Kirche auf ihre eigene, historisch orientierte konfessionelle Identität relativiert und alle Kirchen jetzt schon auffordert, ihren Beitrag zur Einheit der Christenheit in dem Bewusstsein zu leisten, dass sie immer noch in der Spannung von Nichtidentität und Identität leben und allesamt noch darauf warten, zu sich selbst zu kommen.
5. Überwindung identitätsstörender Konfessionsmerkmale
Gelegentlich wurde bemerkt, dass die Geschichte der Täufer und Mennoniten zu komplex sei, als dass eine zu starke Verallgemeinerung und Vereinfachung ihrer Darstellung erlaubt wäre (Anderson, The Sociology of Mennonite Identity, 201). Der polygenetische Ursprung des Täufertums und der teilweise unbändige Pluralismus mennonitischer Gruppenbildungen verbieten es, nach einer Theologie des Täufertums zu suchen (→Täufer; →Täuferforschung). Es ist nur möglich, die Diskussionen nachzuzeichnen, in denen um theologische Orientierungen gerungen wurde. Was übrig bleibt, ist der Eindruck fragmentarischer theologischer Anschauungen. Verbunden mit der sozialen Vielfalt täuferischer und mennonitischer Gruppen, Gemeinschaften und Gemeinden ist die theologische Arbeit nur bedingt in der Lage, einen Beitrag zur täuferisch-mennonitischen Identitätsproblematik zu leisten. Wohl aber kann sie Impulse verstärken, die in der historischen, kulturgeschichtlichen und soziologischen Forschung bisher zur Geltung gebracht worden sind. Das gilt besonders für das eschatologisch verstandene Konzept täuferisch-mennonitischer Identität, das von einer utopischen Intention des Täufertums ausgeht und sich bemüht, den ursprünglichen Schwung „utopischer Energien“ aufzufangen (Goertz, Das konfessionelle Erbe, 196). So erschöpft sich die Antwort auf die Frage nach mennonitischer Identität nicht in der Bewahrung vergangener Konfessionsmerkmale, sondern verweist auf die Gegenwart, in der darum gerungen wird, die Konfessionsmerkmale, die heute noch die Kirchen voneinander trennen und auf der Suche nach ihrer Identität stören, zu überwinden und sich gemeinsam der Führung des Heiligen Geistes anzuvertrauen, der jetzt schon allen die „Stelle“ (D. Sölle) freihält, an der sie zu sich selbst kommen werden.
Literatur (Auswahl)
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Hans-Jürgen Goertz