Inhaltsverzeichnis
Seelsorge
1. Zur Definition des Begriffs „Seelsorge“
Seelsorge (angemessener ist der amerikanische Begriff „pastoral care“, der die Engführung auf den nur „seelischen“ Bereich weitet) kann so definiert werden, dass sie alle Praktiken der Kirche meint, die sich auf die Gesundheit und Unversehrtheit der Individuen, Familien und Gemeinschaften im Lichte der erlösenden Absichten Gottes mit der Schöpfung beziehen. Im Sinne dieser weiten Definition ist Seelsorge die Dimension des kirchlichen Dienstes, die sich auf das Wohlergehen der Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Glaubensgemeinschaft mit einer Reihe von Funktionen konzentriert: Führung, Pflege, Unterstützung, Versöhnung, Heilung, Stärkung, Befreiung. Weiter kann Seelsorge in unterschiedlichen Bereichen wirksam sein (in Kirche, Haus, Krankenhaus, Schule, Fabrik, Gefängnis) und verschiedene Formen ausbilden (z. B. Besuch, Beratung, Hilfe in Krisen und bei Beerdigungen etc.).
2. Seelsorge in mennonitischer Sicht
Auf der Grundlage täuferisch-mennonitischer Theologie kann die Seelsorge auf sechsfache Weise charakterisiert werden:
(1) Seelsorge vollzieht sich im Kontext der Kirche. Sie ist in der Glaubensgemeinschaft verankert, ganz gleich ob Menschen innerhalb oder außerhalb dieser Gemeinschaft gedient wird. Aus diesem Grunde muss die Seelsorge den Aufbau und die Veränderung der Kirche gemeinsam mit dem Aufbau und der Veränderung der Menschen allgemein im Auge haben. Gleichzeitig nimmt die Seelsorge Vorstellungen, Modelle und Normen einer „guten Gesellschaft“ von der Kirche als Rahmen und Kontext ihres Wirkens auf. Der Grund dafür ist die Berufung der Glaubensgemeinschaft, das Leben Gottes in der Welt und zum Wohl der Welt zu verkörpern.
(2) Im Nachdenken über Seelsorge wird Spiritualität und Theologie mit Wissenschaften wie Medizin und Psychotherapie verbunden. Die Seelsorger sind aufgefordert, dazu beizutragen, dass Menschen sich im Lichte Jesu Christi und der Herrschaft Gottes entfalten können. Solche Verantwortung verlangt nach praktischer Weisheit, die Folgendes miteinander zu verbinden versteht: seelsorgerliche Präsenz (Gespür für Probleme der Identität und Autorität, Selbstbewusstsein, charakterliche Festigkeit etc.), Verständnis (Kenntnis sozialer und familiärer Zusammenhänge, ebenso der Problematik zwischen den Geschlechtern, der Persönlichkeitsentwicklung, kultureller Dynamik, therapeutischer Kommunikationsprozesse) und Menschenführung (seelsorgerliche Fähigkeit, Menschen zu leiten und zu unterstützen, in Konflikten zu vermitteln etc.).
(3) Seelsorge sollte im Lichte Jesu Christi, der Weisheit und Herrschaft Gottes praktiziert werden. So kann Seelsorge als das Verstehen und Fördern der „Menschwerdung“ aufgefasst werden. Christus ist die Mitte der seelsorgerlichen Praxis, was auch die kritische Reflexion dieser Praxis einschließt. „Humanisierung“ oder „menschlicher zu werden“ wird auf diese Weise der Gestalt Christi nachbildet. Weiterhin bilden der Weg Jesu und die Nachfolge Jesu den Bezugsrahmen und zeigen die Richtung des Weges angesichts der Notwendigkeit an, zu führen (z. B. in der Ehe) oder im Konflikt, in traumatischer Verletzung, Krise, bei Verlust usw. zu helfen.
(4) Seelsorge ist auf die Heilige Schrift zu gründen. Seelsorger dienen mit biblisch inspirierter Umsicht und Perspektive. Sie können sich dafür Hilfe in den Lehren, Erzählungen, Dichtungen, prophetischen Schriften und der Weisheitsliteratur oder damit in Verbindung stehendem biblischen Material (z. B. Ermahnungen und Ratschläge) holen, die die Situation des Menschen und den Weg, der vor ihm liegt, erhellen helfen. So können Seelsorger biblisch-theologisches und klinisch-medizinisches Wissen mit den unmittelbaren Erfahrungen der Menschen in Familie, kommunalen, sozialen und globalen Zusammenhängen vermitteln.
(5) Seelsorge ist als ein schöpferischer, wiederherstellender, befreiender und stärkender Prozess zu praktizieren, der vom Heiligen Geist inspiriert, geleitet und getragen wird. Seelsorger bemühen sich, an Gottes dreidimensionaler Praxis teilzunehmen: erstens am Unterstützen, Erziehen, Führen, zweitens am Versöhnen und Heilen und drittens am Erneuern und Leiten zur Wahrheit, auch zu wahrhaftem Leben und Sterben. Seelsorger pflegen das Gespür für die Gegenwart des göttlichen Geistes und die Erfahrung der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Geist (Paraklet: Anwalt, Ratgeber und Führer).
(6) Seelsorge ist an der normativen Kultur der Herrschaft Gottes zu orientieren. Das Symbol dieser Herrschaft weist auf die Vision und Verheißung eines Reiches der Freiheit, des Friedens, der Gerechtigkeit, der Wohlfahrt und Ganzheitlichkeit hin. Dieses Reich ist vor allem eine göttliche Gabe und wird letztlich jenseits der Geschichte verwirklicht werden. So arbeiten Seelsorger in der Überzeugung, dass der ultimative Kontext weisen Lebens und Sterbens, der auch die Weisheit des Urteilens, der Führung, des Wachstums, der Versöhnung und Heilung einschließt, eine „Kultur“ der Herrschaft Gottes ist. Indem sie so arbeiten, bleiben sie stets dem sozialen Kontext der Kirche und der Gesellschaft im weiteren Sinne grundsätzlich verhaftet.
3. Beitrag der Mennoniten zur Seelsorgepraxis
Mennonitische Beiträge zur größeren christlichen Kirchengemeinschaft, zur Gesellschaft und zur Seelsorge wurden bereits im 20. Jahrhundert allgemein anerkannt. Beispiele sind u. a. die Beteiligung der Mennoniten an der Arbeit mit Geisteskranken während des „Wehrersatzdienstes“ im Zweiten Weltkrieg, die Errichtung psychiatrischer Anstalten und Altersheime durch mennonitische Körperschaften und das bemerkenswerte Engagement der Mennoniten in der Beratung, Psychotherapie, Mediation und Krankenhausseelsorge. Neuere Beiträge können weiter aufgelistet werden:
(1) Verständnis für Vergebung und Versöhnung als dem hauptsächlichen Anliegen der Seelsorge und der Beratung im Besonderen. Mennonitische Seelsorger neigen in der Tat dazu, in der Vergebung und Versöhnung das Hauptanliegen dessen zu sehen, was Heilen bedeutet, nämlich die Wiederherstellung menschlicher Beziehungen, zerbrochener Familien und Gemeinschaften. Aus diesem Grunde ist Mediation ein bevorzugtes Feld seelsorgerlicher Praxis. Zusätzlich zu den strengen ethisch-theologischen Perspektiven müssen Seelsorger deshalb mit den Ressourcen der christlichen Tradition arbeiten (z. B. mit Gebet, Ritualen, Segnung) und ebenso der modernen Psychotherapie (Familiensystemen, Kommunikationstheorie, Beratungsansätzen usw.).
(2) Eine neue Sicht seelsorgerlicher Beratung als Dienst der Kirche, weniger als Aufgabe der Psychotherapie allgemein. In Verbindung mit dem ersten Beitrag steht die Anschauung, dass seelsorgerliche Beratung eine besondere Weise ist, andere zu begleiten, wo sie den Herausforderungen und Kämpfen des Lebens ausgesetzt sind, um im Lichte Gottes zur Weisheit geführt zu werden. Deshalb ist das Hauptanliegen seelsorgerlicher Beratung auch, sich dafür einzusetzen, dass die Weisheit der Menschen zunimmt (d. h. das Urteilsvermögen, die Fähigkeit, Entscheidungen zugunsten des Lebens zu treffen, auf gedeihliche Weise in Gemeinschaft zu leben), und nicht so sehr sich für „seelische Gesundheit“ als solche einzusetzen. Mit anderen Worten: Seelsorgerliche Beratung konzentriert sich darauf, den Menschen zu helfen, ihre ethische und geistige Intelligenz zu entwickeln und zu verwirklichen.
(3) Mennonitische Perspektiven der Krankenhausseelsorge als geistliche Praxis im Gesundheitswesen und anderen Institutionen (Altenheime, psychiatrische Heilanstalten etc). Auch wenn Mennoniten so schon seit Langem in der seelsorgerlichen Praxis engagiert waren, ist die systematische Reflexion dieser Praxis doch relativ neu. Mennonitische Seelsorger, die sich auf geistliche Belange konzentrieren, können bestimmte ethische Ansichten und moralische Werte einbringen, die mit Gesundheit, Leben und Tod, sowie Heilung zu tun haben, die nicht nur besondere seelsorgerliche Praktiken, sondern auch das Ethos von Institutionen und Programmen bestimmen.
(4) Aktive Beteiligung an dem entstehenden Feld der interkonfessionellen Seelsorge in multikonfessionellen Bereichen. Die sich verändernde soziale und kulturelle Landschaft unserer Zeit weist auf ein dramatisches Anwachsen von kultureller und religiöser Vielfalt hin, die mit so unterschiedlichen Faktoren wie Immigration und beschleunigtem Globalisierungsprozess verbunden sind und die ganze Welt betreffen. Die Arena der Fürsorge wird durch den Wandel in Kommunikation und Familienstruktur, Sexualität, Ehe, Beruf, Arbeitslosigkeit, Ruhestand mitbestimmt. Mennonitische Seelsorger haben eine einzigartige Gelegenheit, zum entstehenden Gespräch darüber beizutragen, wie in interkulturellen und interkonfessionellen Situationen Seelsorge praktiziert werden kann. Sie können seelsorgerliche Ressourcen als Repräsentanten des heilenden Christus anbieten, während sie dafür offen bleiben, Christus im Fremden zu begegnen.
Literatur (Auswahl)
David W. Augsburger, Conflict Mediation Across Cultures, Philadelphia, PA, 1992. - Ders., Hate Work: Working Through the Pain and Pleasures of Hate, Louisville, KY, 2004. - Ders, Helping People Forgive, Louisville, KY, 1996. - Ders., Pastoral Counseling Across Cultures, Philadelphia, PA, 1986. - Leah D. Bueckert und Daniel. S. Schipani (Hg.), Spiritual Caregiving in the Hospital: Windows to Chaplaincy Ministry, Kitchener, Ont., 2011. - Alvin. C. Dueck, Between Jerusalem & Athens: Ethical Perspectives on Culture, Religion, and Psychotherapy, Grand Rapids, MI, 1995. - Alvin. C. Dueck und K. Reimer, A Peaceable Psychology: Christian Therapy in a World of Many Cultures, Grand Rapids, MI, 2009. - Newton H. Maloney und David W. Augsburger, Christian Counseling: An Introduction, Nashville, TN, 2007. - P. M. Miller, Peer Counseling in the Church, Scottdale, PA, 1975. - Daniel S. Schipani, The Way of Wisdom in Pastoral Counseling, Elkhart, IN, 2003. - Ders. (Hg.), Mennonite Perspectives on Pastoral Counseling, Elkhart, IN, 2007. - Ders. (Hg.), Multifaith Views in Spiritual Care, Kitchener, Ont., 2013. - Daniel S. Schipani und Leah D. Bueckert (Hg.), Interfaith Spiritual Care: Understandings and Practices, Kitchener, Ont., 2009. - Lies. B. van der Zee und Annelies Klinefelter-Koopmans, Mediation in Pastoral Care, Elkhart, IN, 2012.
Daniel S. Schipani