Inhaltsverzeichnis
Utopie
1. Definitionen
„Utopia“ leitet sich vom griechischen „ou“ (nicht) und „topos“ (Ort) ab und ist zum Begriff für die Vorstellung von einer „idealen Gesellschaft“ geworden (Websters Encyclopedic Dictionary): ein Ort, den es nicht gibt. Die verschiedenen Deutungen im Wechsel der unzähligen sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Kontexte hat dafür gesorgt, dass es zu keiner allgemeinen Interpretation dieses Begriffs kommen konnte. „Utopie wurde so im Laufe der Zeit mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt: als literarisches Genre, perfekt strukturiertes Gemeinwesen, Ausdruck eines zukunftsorientierten Bewusstseins oder als Bezeichnung der religiösen oder wissenschaftlichen Grundlagen einer universalen Republik“ (Manuel, Utopian Thought, 4). Der Begriff „Utopie“ selbst hat Hohn und Spott auf sich gezogen (Nirgendwo, Dystopie/Antiutopie), aber auch hingebungsvolle Förderung idealer oder konkreter Gesellschaften ausgelöst, z. B. John Miltons Apology for Smectymnuus (1642), eine christliche Utopie. „Bereits vor dem Ende des 16. Jahrhunderts war das Adjektiv „utopisch“ entstanden, und wenn es nicht nur ein Beiwort war, das eine wilde Phantasie auf herabziehende Weise zum Ausdruck bringen sollte, dann konnte es sich auf ein ideelles psychologisches Fundament und eine idealisierende Kraft beziehen“ (Manuel, Utopian Thought, 9). Immer wieder ist viel Kraft darauf verwandt worden, angemessene Definition für „Utopie“ bzw. utopischen Denkens zu finden. Besonders hilfreich sind immer noch die Interdisziplinären Studien zur neuzeitlichen Utopie, die von Wilhelm Voßkamp in drei umfangreichen Bänden zur Utopieforschung (1985) vorgelegt wurden.
Auch wenn es keine allgemeinen, zeitübergreifenden Definitionen von Utopie gibt, bestimmt doch der soziale, politische und kulturelle Kontext, der „Sitz im Leben“, die Definition und Bedeutung der Utopie. Aber die „utopische Neigung (propensity)“ ist ein unbegreiflich komplexer, erstaunlich visionärer und zählebiger Prozess (Manuel, Utopian Thought, 11–29). Eine nützliche Definition hält fest, „dass die hauptsächliche Funktion der Utopie die konstruktive Kritik der Gegenwart durch den Hinweis auf eine hypothetische Zukunft sei“ (Levitas, The Concept of Utopia, 193). Eine andere Definition, die vor allem konkrete Utopieexperimente zu erklären vermag, ist der Begriff der „utopischen Intention“ (Neusüss, Utopie, 13). Nachhaltigen Einfluss hat vor allem die Kategorie des „Noch nicht“ dessen, was sein wird, ausgeübt, die Ernst Bloch auf variantenreiche Weise geprägt und immer wieder neu bedacht hat. „Tagträume eröffnen ein riesiges Reich des noch nicht, in verschiedener Verantwortung, medizinisch, sozial, technisch, geographisch, künstlerisch, religiös, Wunschlandschaften der Malerei, in Dichtung, Oper, und die vielen Religionsinhalte, die alle gefüllt sind mit Erwartung von etwas nicht Vorhandenem und mit dem Gewissen des Eingedenkens, wie es in einem Psalm heißt: „Meine Rechte soll verdorren, wenn ich dein vergesse, Jerusalem“ (Bloch, Zum Begriff der Utopie, 113). Auch im 21. Jahrhundert geht die Suche nach „Neu-Utopia“ weiter (Maresch und Rötzer (Hg.), Renaissance der Utopie, 2004).
Diskutiert wird gleichwohl immer noch folgendes Problem: Sind nur die Konzeptionen der Vergangenheit utopisch zu nennen, deren Visionen sich in ihrer Zukunft erfüllt haben, oder nicht gerade auch oder nur die Versuche gesellschaftlicher Veränderung, deren Vision keine Chance hatte, sich zu verwirklichen? Inzwischen scheint ein Konsens darüber zu bestehen, dass die „imaginierte“ oder „gelebte“ Utopie gewöhnlich mehreres meint: (1) Orientierung an der Zukunft, (2) Konzeptionalisierung eines wünschenswerten und idealisierten Lebens, d. h. eines guten Lebens (Kateb, Utopia and the Good Life, 240), (3) ein kommunales, egalitäres Sozial- und Wirtschaftssystem, (4) „Selbstverwirklichung“ des Individuums und der Gesellschaft als Ziel menschlicher Existenz (239–259). „Die Wesenhaftigkeit des Menschen erfordert eine neue Ordnung, und diese neue Ordnung kann geboren werden in einem bestimmten geschichtlichen Moment für eine bestimmte geschichtliche Periode“ (Tillich, Kritik und Rechtfertigung der Utopie, 207). Solange diese Ordnung als vorläufige und zweideutige nicht absolut gesetzt wird, wird die Utopie von Tillich bejaht und hoch eingeschätzt. „Menschen ohne Utopie bleiben der Gegenwart verfallen, Kulturen ohne Utopie bleiben an die Gegenwart gebunden und bleiben schnell in der Vergangenheit, da Gegenwart nur leben kann aus der Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft“ (Tillich, Kritik und Rechtfertigung der Utopie, 200). Mit der Utopie zu leben, ist eine anthropologische Grundbefindlichkeit. Das sind allgemeine Bestimmungen, die sich am konkreten Stoff immer wieder erst noch bewähren und inhaltlich präzisiert werden müssen.
2. Historischer Abriss utopischen Denkens – einige Beispiele
Die anthropologische Erforschung „primitiver Gesellschaften“ hat die utopische Idee kaum thematisiert, da sie zögerte, westliche Analysemuster auf deren „Welt“ zu übertragen. Stattdessen hat diese Forschung sich auf die Frage konzentriert, wie Menschen sich ihre Umwelt aneignen (in Symbolen, Totems, Ritualen, Tabus, Visionen, Praktiken und Institutionen) und nicht wie sie sich eine ideale, von ihrer Umgebung abgehobene Zukunft vorstellen. Auch wenn es in der Frühgeschichte der Menschheit offensichtlich an Vorstellungen von „idealen“ Gesellschaften fehlt, scheint es doch die Idee von „seligen Inseln“ als Teil der Traumwelt überall zu geben: Bilder oder philosophisch- religiöse Diskurse von Utopien sind nicht ausschließlich dem westlichen Kulturkreis vorbehalten, auch der Taoismus, der Buddhismus und die mittelalterliche islamische Philosophie sind von utopischen Elementen durchsetzt. „Das sind Abhandlungen über Idealstaaten und Geschichten von imaginären Häfen des Glücks unter Chinesen, Japanern, Hindus und Arabern. Doch der Reichtum westlicher Utopien ist in keiner anderen Kultur erreicht worden“ (Manuel, Utopian Thought, 1).
Joachim Wach, der anerkannte Historiker und Anthropologe, weist auf utopische Tendenzen im Islam hin (Wach, Sociology of Religion, 270). Der Ethnologe Mircea Eliade vergleicht Weltkulturen und Religionen miteinander und spielt auf eine „universale“ utopische „Suche nach einem irdischen Paradies“ an, wie die Guarani in Brasilien beispielsweise über „höchste Glückseligkeit, Vollkommenheit und Sieg“ reden – aguydje, Ziel und Gegenstand aller menschlichen Existenz“ (Eliade, Paradise and Utopia, 274). Aber Eliade führt nicht weiter aus, wie diese Idee sich zu anderen nicht-westlichen Kulturen verhält, wohl könnte gesagt werden, dass gerade dieses (utopische) Interesse einem der charakteristischen Züge des gegenwärtigen westlichen Denkens zu Grunde liegt“ (260).
In Anbetracht einer wahrscheinlich weltweiten „utopischen Tendenz“ fragt Frederick L. Polak: „Was ist das Wesen utopischen Denkens? Zumindest ist ein Punkt nicht ernsthaft diskutiert worden. Utopisches Denken bezieht sich stets auf die Zukunft (…), die nahe oder die ferne, und auf eine Zukunft, die sich stark von der gegenwärtigen Wirklichkeit unterscheidet. Indem der menschliche Geist sich von dem unterdrückenden Zugriff des Hier und Jetzt befreite, befreite er sich von den raum-zeitlichen Grenzen der existierenden Wirklichkeit und versuchte, die Grenzen zum Unbekannten zu überschreiten“ (Polak, Utopia and Cultural Renewal, 282). Obwohl er diese Dynamik vom westlichen Kontext her diskutierte, führte er weiter aus, „dass in den meisten Teilen der restlichen Welt – was wir Osteuropa, Asien und Afrika nennen – fraglos kraftvolle Bilder von der Zukunft am Werk sind (…). Solche Bilder beginnen schon das Gesicht ganzer Kontinente zu verändern, vielleicht sogar der ganzen Welt“ (292 f.). Schließlich schreibt Ferdinand Seibt: „Die Vision von einer konfliktfreien Gesellschaft ist der Kern einer jeden Utopie“ (Seibt, Utopica, 271).
3. Verschiedene Utopiekonzepte
Polak meint, dass seine Utopiedefinition, die auf das „erwachende Denken über die Zukunft“ abhebt und die Utopie als ein bedeutsames historisches Modell für die soziale und kulturelle Evolution des Menschen fasst, auf alle menschlichen Gemeinschaften Anwendung finden könne (Polak, Utopia and Cultural Renewal, 282). Wie auch immer, das Interesse an Utopie war vor allem ein Phänomen westlicher Kultur und hat ihren Ausdruck mindestens in drei Formen gefunden:
(1) Zunächst in einem visionären oder spekulativen Mythos. Dieser Mythos „wurde entworfen, um eine Vision für die eigenen sozialen Ideen zu schaffen“, für eine Art zu leben, die in sich gut war (Frye, Varieties of Literary Utopia, 25). Griechische Philosophen waren anscheinend die ersten, die auf dem spekulativen Mythos bestanden. Von einem idealen Staat sprach zunächst Aristoteles im zweiten Buch der Politica. Platon beschwor diese Idee in seiner Politeia und in den Nomoi. Auch wenn es zahlreiche Schriften zu utopischen Ideen nach Platon gab, erfüllte sich der sokratische Wunsch nach einer ausgearbeiteten Abhandlung über diese Idee erst neunzehn Jahrhunderte später in der Utopia des Thomas Morus. Diese Utopie gab auch den nachfolgenden literarischen Diskussionen des Utopie-Themas die klassische Form und Richtung. Sie wurde ins Deutsche, Italienische, Französische, Chinesische und Japanische übersetzt.
Die „Leidenschaft“ für die Utopie, die von der Lektüre der Utopia des Thomas Morus ausgelöst wurde, verbreitete sich in Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien und anderen europäischen Ländern und erzeugte eine Flut von Literatur. Dazu zählen Johann Eberlin von Günzburgs Die Fünfzehn Bundesgenossen) mit der Wolfaria im elften Bundesgenossen (1520), Michael Gaismaiers Tiroler Landesordnung (1526) und Hans Hergots Neue Wandlung (1527), später wurde Johann Valentin Andreae mit seiner Christianopolis (1619) weithin bekannt, in Böhmen Jan Amos Comenius (1633), in Italien Tommaso Campanella mit dem Sonnenstaat (1623), neue Akzente setzte Louis-Sébastien Mercier mit seiner Utopie als Zukunftsroman (L´an 2440, 1772) in Frankreich, besonderes Aufsehen erregten utopische Schriften der französischen Frühsozialisten Henri Saint-Simon und Charles Fourier, die Utopien von Etienne Cabet (Reise nach Ikarien 1840) und William Morris (News from Nowhere 1890) im 19. Jahrhundert und schließlich zahlreiche Utopien in Europa und utopisch konzipierte Kommunen in Nordamerika (Hansen, Auf der Suche nach der neuen Welt, 118–142) – bis zu George Orwells 1984 (1949) und Aldous Huxleys Brave New World (1932) im zwanzigsten Jahrhundert.
Die Utopia des Thomas Morus ist zweideutig und hat eine nicht enden wollende Debatte darüber ausgelöst, ob sein Werk ein spielerisch-hämischer Kommentar zum menschlichen Leben (Literatur) oder nicht doch eine Aufforderung an Reformer und Revolutionäre sei, den besten Staat ernsthaft zu verwirklichen. So setzte sich zwar das Bild vom „gemeinen Mann“ durch, mit dem um die Befreiung des Menschen aus der Knechtschaft gekämpft wurde. Doch eine allseits akzeptierte Definition von Utopie war nicht entstanden (Levitas, The Concept of Utopia, 2).
(2) in der Gelebten Utopie. Paul Sears meinte, dass es falsch wäre, das utopische Denken als bloße Phantasie, als visionär und unpraktikabel abzuwerten (Sears, Utopia and the Living Landscape, in: Manuel 1966, 137). Schon vor der Reformation hatten sich apokalyptische oder chiliastische Erwartungen (→Apokalyptik) mit Aufständen von Handwerkern und Bauern verbunden, und so wurde in der Heiligen Schrift nach einem Modell des Gemeinwesens gesucht, das die verhasste Gesellschaft, die abgelehnt wurde, ersetzen sollte. Humanistische Philosophen oder Schriftsteller wie Erasmus von →Rotterdam oder später Francois Rabelais und Reformatoren wie Thomas →Müntzer wurden von Thomas Morus und frühen Utopieansätzen angeregt oder zum Handeln bewogen. Außerdem illustrieren die römisch-katholische Klosterbewegung und zahlreiche „Sozialexperimente“ die Idee einer „gelebten Utopie“. So griffen Italiener die utopische Idee auf und brachten sie mit hoher Symbolkraft in der Renaissance-Architektur von der „idealen Stadt“ zur Geltung (Manuel, Utopian Thought, 153). In der Reformationszeit wirkten sich solche utopischen Einflüsse eher ideologisch oder politisch aus, im Täufertum (→Täuferische Bewegungen) allerdings gelegentlich auch recht praktisch im Umgang mit Besitz und Eigentum.
(3) im Zusammenhang von Religion und Utopie. Die griechische Utopie war kaum religiös bestimmt, das jüdische Alte Testament dagegen kennt den „Garten Eden“ und die apokalyptische Literatur diente oft als Anregung für aktuelle utopische „Inkarnationen": die Mönchsorden der römisch-katholischen Kirche, das Paradies der mittelalterlichen Orthodoxie und die christliche Vorstellung vom Tausendjährigen Reich. Mircea Eliade meinte, dass die chiliastischen, millenaristischen, messianischen und prophetischen Bewegungen (und die „Cargo-Kulte“, die aus christlicher Mission entstanden waren) sicherlich das allgemeine utopische Denken und Handeln im westlichen Kulturkreis genährt haben (Eliade, Paradise and Utopia, 260).
Der religiöse Utopismus hat jedoch dazu geführt, Verwirrung zu stiften oder Konflikte zu schüren, wenn es galt, den transzendentalen Raum und die Geschichte voneinander zu unterscheiden bzw. aufeinander zu beziehen. Paul Tillich warnte davor, mit der transzendentalen Interpretation der Utopie sowohl „Kultur als auch Natur von den erlösenden Kräften in der Geschichte“ auszuschließen (Tillich, Systematische Theologie, III, 406). Tillich unterscheidet eine „säkulare“ von einer „religiösen“ Utopie. Die religiöse Utopie hat mit der säkularen die Reaktion auf die Endlichkeit und die Entfremdung des Menschen vom Ursprung des Seines gemeinsam. Beide sind „Negation des Negativen“ (Tillich, Religiöse und säkulare Utopie, 186). Was die religiöse von der säkularen Utopie unterscheidet, ist die im Glauben ergriffene Möglichkeit einer Realisierung der Wiedervereinigung mit dem Grund des Seins bzw. die Errichtung des Reiches Gottes nicht in der allein auf die Tätigkeit des Menschen zurückzuführenden Geschichte, im „Reich der Vernunft und Demokratie und der klassenlosen, das heißt ausbeutungslosen Gesellschaft“, sondern im „Übergeschichtlichen“ (S. 198) – aber, wie bereits erwähnt, nicht ohne Geschichte: „Ein Reich Gottes, das nicht teilnimmt an der Geschichte, an der utopischen Verwirklichung in der Zeit, ist kein Reich Gottes“ (Tillich, Kritik und Rechtfertigung der Utopie, 209). Dennoch verwirrt es, dass die Utopia des Thomas Morus nicht „ohne den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und den Belohnungen und Strafen in der nächsten Welt“ zu begreifen ist, andererseits durfte diese Utopie „nicht mit dem Paradies verglichen werden. Die Utopie schildert nicht nur ein irdisches Leben allgemein, sondern stellt sogar eine städtische Gesellschaft dar“ (Manuel, Utopian Thought, 123 f.). Morus nahm Gedanken Platons auf, aber kritisierte exklusiv allegorische Deutungen der Bibel, die ein kontinuierliches Fortleben eines irdischen Paradieses in Zweifel zogen. Andererseits sprach er als überzeugter Christ, wenn er gegen Stolz, Ungleichheit, Anhäufung von Reichtümern, gegen Armut, Gewalt, Hunger, Krieg und Sklaverei zu Felde zog. Diese paradoxen Auffassungen, die in der Konzeption der Utopia zum Ausdruck kamen, stellen eine Brücke zu der Rolle dar, die Utopien in der „radikalen Reformation“ spielten.
4. Utopie und Täufertum
Die utopisch ausgerichtete Bewegung in Deutschland und den benachbarten Ländern im Osten legten den Akzent vornehmlich auf die Erwartung des Tausendjährigen Reichs. „Die Millenaristen können in zwei Gruppen eingeteilt werden, in solche, die das Kommen des Herrn in die Geschichte passiv erwarteten, und in solche, die von der Pflicht überzeugt waren, an Gottes Werk mit direkter Aktion, Predigen, Bekehren, Bezeugen der Wahrheit und gelegentlich auch mit dem Schwert gegen die Günstlinge des Antichrist teilzunehmen“ (Manuel, Utopian Thought, 184). Einer der herausragenden Vertreter der zuletzt genannten Gruppe war in Deutschland Thomas Müntzer, auch wenn die Frage, ob Müntzer ein „revolutionärer Utopist“ oder ein „religiöser Reformer“ war, noch ungeklärt ist. Der Aufbruch der Täufer um 1525, sofern sie eine „gelebte Utopie“ anstrebten, hing teilweise chronologisch mit der Nähe zum Erscheinungsjahr der Utopia des Thomas Morus (1516), der reformatorischen Anfänge (1517) und teilweise mit den Massenerhebungen des „gemeinen Mannes“ im 16. Jahrhundert zusammen.
An Karl Mannheims Deutung in Ideologie und Utopie (1928/29) gemessen, waren die Täufer selbstverständlich utopisch ausgerichtet. Abraham Friesen bemerkt: „Zwischen dem Bauernkrieg und dieser (täuferischen) Reformation gab es eine sehr enge Interaktion, nicht nur weil das soziale und geistige Milieu sich in beiden Fällen in einer Krise befand, sondern auch weil Täufer und Aufständische beide Milieus in ihrer Vorstellung von einer idealen christlichen Gesellschaft miteinander verbanden“ (Friesen, Reformation and Utopia, 236).
Ferner wird allgemein angenommen, dass die täuferischen Bewegungen mit der utopisch ausgerichteten Vorstellung vom Tausendjährigen Reich in drei Bereichen verbunden sind: einmal in dem von Erasmus von Rotterdam beeinflussten Täufertum, dann im Täufertum, das mit dem Bauernkrieg, Thomas Müntzer und der Täuferherrschaft zu →Münster in Erscheinung trat und schließlich in den hutterischen Gütergemeinschaften. James M. Stayer bemerkt: „Historiker können den Bauernkrieg nicht von der Reformation, auch nicht das Ideal der Gütergemeinschaft unter den frühen Täufern von den sozialen und wirtschaftlichen Hoffnungen der aufständischen Bauern trennen“ (Stayer, Neue Modelle eines gemeinsamen Lebens, 29 f.; Goertz, Aufständische Bauern, 342).
Ob die frühen Täufer nur eine „visionär-imaginierte“ oder eine „gelebte“ Utopie vertraten, hängt vom geographischen Ursprung der jeweiligen täuferischen Bewegung ab. Zweifellos vertrat das münsterische Täufertum einen „gelebten“ Millenarismus mit Anwendung von Gewalt. Der Aspekt „gelebter“ Utopie nährte auch die Spekulation, dass das Täufertum als Vorläufer des Marxismus zu gelten habe (Friesen, Reformation and Utopia, 76 ff.). Der Unterschied zum Marxismus hängt davon ab, ob der täuferischen Utopie eine religiöse und gewaltlose Motivation gegenüber dem marxistischen Konzept des „Klassenkampfs“ und des „dialektischen“ bzw. evolutionären Materialismus zu Grunde liegt.
Auch wenn die Täufer verschiedentlich in besondere Episoden Müntzers, der Münsteraner und in andere utopischen Bestrebungen verwickelt waren, waren sie grundsätzlich jedoch christologisch ausgerichtet, indem sie Christi Verkündigung des Reiches Gottes folgten, mitsamt der „biblischen Wirtschaftsweise“ (Gütergemeinschaft) im Sinne von Apg. 2 (Goertz, Religiöser Nonkonformismus und wirtschaftlicher Erfolg, 343–362). Das setzt die Täufer scharf von Müntzer ab, der nach einem gewissen Zögern die Meinung vertrat, dass die Unterdrückten sich erheben und die Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen würden, wenn die Fürsten sich ihm nicht anschließen werden.
Die Theorie vom polygenetischen Täufertum hat für eine nuancierte Interpretation vom Werden eines täuferischen Selbstverständnisses gesorgt. Der Eindruck legt sich nahe, dass in den verschiedenen täuferischen Bewegungen oder Gruppen die „gelebte“ Utopie, bis in die Gegenwart, eine besondere Rolle spielt. Am nachhaltigsten verwirklichen die Hutterer (→Hutterische Bruderhöfe) immer noch den utopischen Ansatz ihrer Frömmigkeit (Stayer, The German Peasants´ War and Anabaptist Community of Goods, 139–159; Goertz, Religiöse Bewegungen, 1993, 82 ff). „Die Hutterer versuchen, eine Kolonie des Himmels zu errichten (…). Sie haben in ihren sozialen Verhaltensmustern, wie wirtschaftlicher Anstrengung, Ausgleich zwischen armen und reichen Mitgliedern, einem Verteilungssystem, das privilegierte Positionen und Motivationen gering achtet, einige Merkmale entwickelt, die einer Utopie ähnlich sind (Hostetler und Huntington, The Hutterites of North America, 1). Das Täufertum verfolgte die Verwirklichung einer Utopie, in der Glaube und Tat miteinander verbunden waren (Friesen, Erasmus, the Anabaptists and the Great Commission, 108). Das schloss die Vorherrschaft der Gemeinschaft über das Individuum, die →Gütergemeinschaft, die Gleichstellung der Geschlechter, gegenseitige Hilfe und vor allem die Ablehnung der Gewalt in allen Formen, um Gerechtigkeit zu erreichen, ein. Insgesamt kann gelten, was Hans-Jürgen Goertz schrieb: „Beschränkt man das Utopische nicht auf Wunschbilder und visionäre Modelle des Zusammenlebens, sondern bezieht man ein, was „utopische Intention“ genannt wurde, den Drang, die schlechte Gegenwart zu überwinden und alles zu tun, um eine bessere Zukunft zu erreichen, dann fällt es nicht schwer, auch die weniger spektakulären Ausprägungen des Täufertums als utopisch motivierte Bewegungen zu deuten“ (Goertz, Frömmigkeit der Radikalen, 42).
Wenn der Versuch, die christlichen Lehren der Gleichheit der Menschen, Nächstenliebe und Miteinanderteilen in Liebe auf die konkretes soziale Existenz zu beziehen, als utopisch definiert wird, dann befand sich das Täufertum unter den radikalsten, nachhaltigsten und religiös verankerten Utopisten in der Geschichte. Diese Orientierung, die lange übersehen wurde, muss weiter genauer untersucht und angeeignet werden.
5. Akzente des utopischen Denkens
Die westliche Utopietradition zeichnet sich durch zahlreiche Akzente aus:
(1) Sie avisierte eine „vollkommenere Zukunft“ (wie auch immer sie definiert wurde). Das westliche, besonders das europäische utopische Denken und Handeln waren durch eine rationale, sogar prophetische Planung für eine „ideale“ Zukunft, d. h. Fortschritt in der Geschichte der Menschheit (Mannheim), und Pazifismus charakterisiert (Seibt, Utopica, 290; Polak, Utopia and Cultural Renewal, 284 ff.). Seibt meint, dass zukunftsbezogenes Planen allgemein als Grobdefinition akzeptiert wird, und stellt es in den Kontext der Entwicklung „rationalen Planens“, das im Mittelalter einsetzte und das in hohem Maße von Renaissance und Humanismus verstärkt wurde (Seibt, Utopica, 285 ff.).
(2) Mit der utopischen Tradition wird die Restauration idealisierter Lebensbedingungen unterstützt, auch das Christentum. Der Utopismus vor der Aufklärung wurde größtenteils aus christlichen Grundlagen abgeleitet – es neigte zu Millenarismus, gelegentlich auch Chiliasmus, oft als Antwort auf Jesu Verkündigung eines kommenden Zeitalters.
(3) In der utopischen Tradition nahmen viele Müntzers und anderer Utopisten Vorsatz auf, die Unterdrückten von Armut und Unterdrückung zu befreien, und widerspiegelten die Ideen des „gemeinen Mannes“ und mancher Humanisten . Kommunalismus und Egalitarismus begannen sich im sozialen und wirtschaftlichen Leben zu regen, wurden vorerst aber bis in die Zeit der revolutionären Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts niedergedrückt und verschafften sich erst nach und nach wieder Geltung (vgl. Blickle, Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten, bes. 13–21).
(4) In der utopischen Tradition wird angenommen, dass die menschliche Fähigkeit, sich einen Reim auf diese Welt zu machen und in ihr zu handeln, an einer kritischen Stelle angekommen sei (Stillman, Utopien Studies, VI, 1990, 103). Dennoch überwiegt der Eindruck, den Paul Tillich 1951 so formuliert hat: „Die Utopie eröffnet Möglichkeiten, die, abgesehen von der utopischen Vorwegnahme, verborgen bleiben würden (…). Ohne die vorwegnehmende Phantasie wären in der Menschheitsgeschichte zahllose Möglichkeiten unrealisiert geblieben“ (Tillich, Kritik und Rechtfertigung der Utopie, 199 f.).
Das grundsätzliche theologische und philosophische Problem mit utopischem Denken ist die Tatsache des Bösen (menschlicher Egoismus und seine Ausrottung). Alvin Gouldner glaubt, dass die utopische Vision „in der (tragischen) Kluft zwischen einem zugegebenermaßen transzendenten Ideal und einer zugegebenermaßen davon getrennten Definition der sozialen Realität“ gegründet sei. Die tragische Antwort auf diese Kluft zwischen Realität und Idealität ist eine radikale Vermeidung einer zugegebenermaßen korrupten Welt“ (Gouldner, The Dialectic of Ideology and Technology, 88). Die fundamentale Notwendigkeit für den gleichzeitig individuellen wie sozialen Transformationsprozess auf irgendein Ideal hin zuzusteuern, scheint paradox zu sein, und deshalb wird das Böse höchstwahrscheinlich niemals ausgerottet werden können. So wird deutlich, dass Utopie die Grenzen menschlicher Sündhaftigkeit nicht zu überschreiten vermag und auch sie auf Gottes Gnade angewiesen bleibt. „Wenn die Macht des Guten zunimmt, nimmt auch die Macht des Bösen zu“ (Tillich, Systematische Theologie, III, 424).
Werke (Auswahl)
Klaus J. Heinisch (Hg.), Der utopische Staat. Morus Utopia, Campanella Sonnenstaat, Bacon Neu-Atlantis, Reinbek bei Hamburg 1960. - Helmut Swoboda (Hg.), Der Traum vom besten Staat. Texte aus Utopien von Platon bis Morris, Dokumente, München 1972. - Richard van Dülmen (Hg.), Das Täuferreich zu Münster 1534–1535, Dokumente, München 1974. - Hans Hergot und die Flugschrift von der Newen Wandlung eynes christlichen Lebens (Faksimilewiedergabe), Leipzig 1977. - Günter Franz (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, Darmstadt 1972 (enthält Michael Gaismaiers Landesordnung).
Literatur (Auswahl)
Klaus Bernet, „Gebaute Apokalypse“. Die Utopie des Himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit, Mainz 2007. - Ernst Bloch, Geist der Utopie, Frankfurt/M. 1973 (nach der 2. Aufl. 1923). - Ders., Zum Begriff Utopie, in: Ders., Abschied von der Utopie? Vorträge, hg. von Hanna Gekle, Frankfurt/M. 1980, 41–115. - Mircea Eliade, Paradise and Utopia. Mythical Geography and Eschatology, in: Frank E. Manuel (Hg.), Utopias and Utopian Thought, Boston, Mass., 1966, 260–280. - Abraham Friesen, Reformation and Utopia, Wiesbaden 1974. - Ders., Erasmus, the Anabaptists and the Great Comission, Grand Rapids (Michigan) 1998. - Northrup Frye, Varieties of Literary Utopia, in: Manuel, Utopias, 25–49. - Hans-Jürgen Goertz, Die Frömmigkeit der Radikalen. Geist der Utopie im Täufertum, in: Joachim Meissner, Dorothee Meyer-Kahrweg and Hans Sarkowicz (Hg.), Gelebte Utopien. Alternative Lebensentwürfe, Frankfurt/M. 2001, 28–44. - Ders. (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, München 1984. - Ders., Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit, München, 1993. - Ders., Religiöser Nonkonformismus und wirtschaftlicher Erfolg. Die Gütergemeinschaft der Täufer in Mähren, in: ders., Radikalität der Reformation, Göttingen 2007, 343–362. - Ders., Aufständische Bauern und Täufer in der Schweiz, in: ders., Radikalität der Reformation, 333–342. - Alvin Gouldner, The Dialectic of Ideology and Technology, London 1976. - Klaus J. Hansen, Auf der Suche nach der neuen Welt. Gütergemeinschaftsexperimente in Nordamerika, in: Goertz (Hg.), Alles gehört allen, 118–142. - Irvin B. Horst, Erasmus, The Anabaptists and the Problem of Religious Liberty, Haarlem 1967. - John A. Hostetler und Gertrude Huntington, The Hutterites of North America. Fort Worth, Texas, 1996. - George Kateb, Utopia and the Good Life, in: Manuel, Utopias, 239–259. - Ruth Levitas, The Concept of Utopia, Syracuse 1990. - Günther List, Chiliastische Utopie und radikale Reformation. Die Erneuerung der Idee vom tausendjährigen Reich im 16. Jahrhundert, München 1973. - Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1928/29, 4. Aufl. 1965. - Frank E. und Fritzie P. Manuel, Utopian Thought in the Western World, Oxford 1979. - Ders. (Hg.), Utopias and Utopian Thought, Boston, Mass., 1966. - Rudolf Maresch und Florian Rötzer, Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 2004. - Anselm Neusüss (Hg.), Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen, Neuwied und Berlin 1968. - Peter Nitschke, Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis zu Friedrich II. von Preußen. Stuttgart 1995. - Werner O. Packull, Die Hutterer in Tirol. Frühes Täufertum in der Schweiz, Tirol und Mähren. Innsbruck 2000. - Frederick Polak, Utopia and Cultural Renewal, in: Manuel, Utopias, 1966, 281–295. - Ferdinand Seibt, Utopica. Modelle totaler Sozialplanung. Düsseldorf 1972. - James M. Stayer, Neue Modelle eines gemeinsamen Lebens. Gütergemeinschaft im Täufertum, in: Goertz, Alles gehört allen, 21–49. - Ders., The German Peasants´ War and Anabaptist Community of Goods, Montreal u. a. 1991. - Peter G. Stillman, Recent Studies in the History of Utopian Thought: A Review Essay, in: Utopian Studies, Bd. 1, Nr. 1, 1990. - Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. 3, Stuttgart 1966. - Ders., Kritik und Rechtfertigung der Utopie, Ges. Werke VI, Stuttgart 1963, 198–210; dort ebenso: Religiöse und säkulare Utopie, 185–198. - Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde., Frankfurt/M. 1985. - Joachim Wach, Sociology of Religion, Chicago 1951.
Bibliografie
Andreas Heyer, Sozialutopien der Neuzeit. Bibliographisches Handbuch, 2 Bde., Berlin 2008 und 2009.
Calvin W. Redekop