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Mannhardt, Johann Wilhelm Emmanuel
bekannt als Wilhelm Mannhardt, geb. am 26. März 1831 in Friedrichstadt an der Eider, Deutschland, getauft von seinem Vater Jakob Mannhardt in der Mennonitenkirche zu Danzig am 21. Juni 1846, gest. am 25. Dezember 1880 in Danzig; Germanist, Historiker und Volkskundler.
Wilhelm Mannhardt war der erste Mennonit, der einen Doktorgrad erwarb, und wurde zu einem einflussreichen Forscher auf dem Gebiet der Volkskunde und Mythologie. Er schrieb die Geschichte der preussischen Mennoniten im 19. Jahrhundert und tat sich in den späten 1860er Jahren als Verfechter für die Einwilligung der Mennoniten in den Militärdienst hervor.
Mannhardts Eltern waren Jakob und Adriana Margaretha Mannhardt, geb. Thomsen. Der Vater war Pastor der Mennonitengemeinde in Friedrichstadt a. d. Eider, als Wilhelm, der älteste Sohn, geboren wurde. Dieser Sohn war ein kränkelndes Kind, dem im Alter von sieben Jahren eine Rückgratverkrümmung das Atmen und Gehen schwer machte. Asthma und Nervenprobleme taten ihr übriges. Wilhelm versäumte viele Unterrichtsstunden in der Schule, während er die Zeit im Streckbett verbringen musste, um sein Rückgrat zu straffen. 1836 zog die Familie nach →Danzig, als sein Vater dort die Pastorenstelle in der Mennonitengemeinde übernahm. Seit 1844 verfolgte Wilhelm Mannhardt die politischen Entwicklungen im Herzogtum Schleswig mit Bestürzung, als der dänische König dieses Herzogtum dem Königreich Dänemark einzuverleiben versuchte. Als es 1848 zwischen Dänemark und dem Norddeutschen Bund kurzerhand zu einem Krieg kam, schrieb Mannhardt ein Gedicht, in dem er die Trauer darüber zum Ausdruck brachte, dass sein gesundheitlicher Zustand es ihm nicht erlaubte, für das Vaterland in den Krieg zu ziehen. Dieser Konflikt bestimmte den weiteren Verlauf seines Lebens. Zu dieser Zeit war er in eine polemische Auseinandersetzung mit einem dänischen Freund verwickelt, der die Gebietsansprüche Dänemarks an Schleswig mit einer Verklärung der nordischen Mythologie rechtfertigte. Um solche Erklärungen zurückweisen zu können, las Mannhardt die Deutsche Mythologie Jakob Grimms. Im Stil, der eine gewagte Ähnlichkeit mit einer neupietistischen Bekehrungsgeschichte aufwies, erzählte Mannhardt von der Erfahrung mit dieser Lektüre unter einem Apfelbaum im Garten seiner Eltern im Sommer 1848. Plötzlich sei ihm klar geworden, dass es „ward zu einer nationalen Tat (…), mündliche Überlieferungen jeder Art als Dokumente der vaterländischen Urzeit zusammenzubringen und zu verwerten“.
Wilhelm Mannhardt beendete die Ausbildung am Gymnasium 1851 und nahm das Studium der Philologie an den Universitäten Berlin und Tübingen auf (1851–1854), wo er mit einer Dissertation Zur Anthropologie der Germanen, die Jakob Grimm gewidmet war, 1854 zum Doktor der Philosophie promoviert wurde. Von 1855 bis 1859 gab er die Zeitschrift für Deutsche Mythologie und Sittenkunde heraus, eine Zeitschrift, die 1853 von seinem 1855 plötzlich verstorbenen Freund Johann Wilhelm Wolf gegründet worden war. Während dieser Zeit habilitierte er sich auch an der Universität Berlin. 1858 wurde er Privatdozent in Berlin und bot neben anderen auch Lehrveranstaltungen zu Deutscher Mythologie und Gotischer Grammatik an. Da er von den spärlichen Kolleggeldern nicht leben konnte, musste er sein Einkommen aufbessern, indem er eine Hauslehrerstelle bei einer Berliner Familie annahm und 1861 ebenfalls als Hauslehrer nach Schlesien zog. Im Herbst 1861 kehrte er jedoch ohne jede Aussicht auf eine berufliche Anstellung wieder nach Berlin zurück. Die Debatten, die zu dieser Zeit im Preußischen Landtag darüber geführt wurden, dass die Befreiung der Mennoniten vom Militärdienst aufgehoben werden sollte, veranlasste die ländlichen Mennonitengemeinden, eine Delegation mit einer Petition in die Hauptstadt zu schicken. Nur die Danziger Mennonitengemeinde weigerte sich, an dieser Protestaktion teilzunehmen und schlug stattdessen vor, dass eine Schrift erstellt würde, in der die Geschichte und die Harmlosigkeit der mennonitischen Befreiung vom Militärdienst dokumentiert werden sollte. Alle Gemeinden stimmten diesem Vorschlag zu, und Wilhelm Mannhardt wurde beauftragt, dieses Buch für 200 Taler zu schreiben. Ostern 1862 zog er wieder zu seinen Eltern und begann mit dieser Arbeit. Am 24. Juni 1862 traf sich eine Kommission im Pfarrhaus, um sich das Manuskript von neun Uhr vormittags bis acht Uhr abends vorlesen zu lassen. Eine zweite Lesung wurde für eine größere Gruppe in Nogathau bei Elbing einige Tage später einberufen. Diese Gruppe entschied, die Abschnitte wegzulassen, die sich mit dem politischen und wirtschaftlichen Engagement der Mennoniten befassten. Die übrigen Abschnitte wurden 1863 als Die Wehrfreiheit der Altpreußischen Mennoniten veröffentlicht. Dreitausend Exemplare wurden gedruckt und verteilt, um dabei mitzuhelfen, den historischen Charakter der Wehrdienstbefreiung herauszustellen. Wenigstens ein Exemplar wurde dem Innenministerium zugestellt, das die Gesetzesvorlage auszuarbeiten hatte, und befindet sich heute noch im Archiv bei den Akten.
Mannhardt ließ durchblicken, dass es eigentlich ungeschickt gewesen sei, ein Prinzip zu verteidigen, mit dem er selber nicht übereinstimmte, und in der Einleitung bemerkte er, dass der Inhalt dieses Buches nicht seine persönliche Überzeugung wiedergebe. Letztlich sah er in der Befreiung der Mennoniten vom Wehrdienst eine bindende Übereinkunft oder ein Privileg des Königs, das unter dem Allgemeinen Landrecht rechtlich nicht ersatzlos zurückgenommen werden könne. Da es aber keinen Ersatz für den Verlust religiöser Freiheit gibt, könne die Befreiung weder vom Landtag noch vom König ohne Zustimmung der Mennoniten selbst aufgehoben werden. Das Staatsministerium wies diesen Anspruch jedoch zurück, indem es im Jahr der Veröffentlichung dieses Buches verlautbaren ließ, dass die Zusicherung der Wehrfreiheit im sogenannten Gnadenprivilegium von 1870 zwar den Anschein eines Privilegs habe, aber nicht über den Status einer genuinen königlichen Gewährung eines Privilegs verfüge. Kaum hatte das Parlament des Norddeutschen Bundes 1867 die Befreiung der Mennoniten vom Wehrdienst widerrufen und kaum hatten die Appelle an den König nur zum Ergebnis geführt, einen Ersatzdienst für Mennoniten in der nichtkämpfenden Truppe zu schaffen, setzte sich Mannhardt in den Mennonitischen Blättern nachhaltig dafür ein, die Mennoniten von der Zustimmung zum Wehrdienst zu überzeugen. Er bemerkte, Menno Simons sei auf dem falschen Weg gewesen, eine reine, von der Welt abgesonderte Kirche zu errichten, und das Neue Testament habe den Krieg nicht immer als Sünde verurteilt, auch dass sich Joh. 15, 13 („Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für die Freunde“) sehr wohl auch auf den Militärdienst bezog und Christen sich zwar nicht an Angriffskriegen beteiligen dürften, sich auf ihre Regierung aber verlassen könnten, sich nur in Verteidigungskriegen zur Wehr zu setzen. Mennoniten, ob sie dem Wehrdienst zustimmten oder nicht, trauten Mannhardts Argumenten zu, zahlreiche Gemeindeglieder davon überzeugen zu können, den Wehrdienst zu akzeptieren (→Wehrlosigkeit).
Abgesehen von seinen Beiträgen zur mennonitischen Geschichtsschreibung ist Wilhelm Mannhardt der Nachwelt mit seinem bedeutenden Werk zur deutschen Volkskunde am nachhaltigsten im Gedächtnis geblieben. Neben der Herausgebertätigkeit an Wolfs Zeitschrift veröffentlichte er über zwölf Bücher zu volkskundlichen Themen, vor allem als er von 1863 bis 1873 an der Danziger Stadtbibliothek arbeitete und als er danach ein bescheidenes Stipendium des Kultusministerium erhielt, das ihn in die Lage versetzte, vollzeitig an seinen Forschungen zu arbeiten. In den frühen Jahren seiner akademischen Laufbahn folgte er den Spuren Jakob Grimms und versuchte, noch lebendige Bauerntraditionen mit der Germanischen Religion zu verknüpfen. Im Laufe der 1860er Jahre wurde er jedoch davon überzeugt, dass dieses Vorhaben zu einfach und spekulativ gewesen sei, und er begann, statistisches Material über bäuerliche Praktiken überall in Europa für ein geplantes Urkundenbuch der Volksüberlieferungen zu sammeln. Er verfolgte dieses Projekt, indem er eine große Anzahl von Fragebögen verschickte und Kriegsgefangene aus Dänemark, Frankreich und anderen deutschsprachigen Staaten befragte, die es im Zuge der Kriege um die deutsche Einheit (1864, 1866, 1870) nach Danzig verschlagen hatte. Er veröffentlichte u. a. Bücher über den germanischen Glauben an Korndämonen sowie Wald- und Feldgeister. Sein Werk legte die Grundlage für den ungeheuer großen Atlas der deutschen Volkskunde, dessen letzter Band erst 1985 erschien. Sein Werk beeinflusste auch Friedrich Nietzsches Auffassungen von der frühen, vor allem der griechischen Religion und wird heute noch in volkskundlichen Anthologien zitiert.
Obwohl er sich auf das deutsche Volkstum konzentrierte, beteiligte sich Mannhardt auch regelmäßig und aktiv am gottesdienstlichen Leben der Danziger Mennonitengemeinde. Gemeinsam mit seinem Vater besuchte er die Veranstaltungen der Evangelischen Allianz 1857 in Berlin, und in den 1870er Jahren, als die Gesundheit seines Vaters nachließ, las er an dessen Stelle Predigten in den Gottesdiensten vor. Er führte die Gemeindechronik von 1862 bis 1873. Zahlreiche Berichte erwähnen seine freundliche und fröhliche Natur und seine Bereitschaft, anderen zu helfen, wo er nur konnte, besonders aber beim Abfassen von maßgeschneiderten Gedichten für festliche Anlässe oder bei der Beratung von Studenten zur Anlage des Studiums.
Mannhardt legte Publikationen zu zwei wichtigen und einflussreichen historischen Arbeitsgebieten vor, zu dem kleineren über die Mennoniten und dem umfangreicheren profunden zur Volkskunde. In der Forschung wurden sie als vollkommen voneinander verschiedene Arbeitsschwerpunkte behandelt. Die massive weitere Beschäftigung mit dem Mythologieforscher Mannhardt weist kaum auf seinen mennonitischen Hintergrund hin, welcher für seine wissenschaftlichen Studien ja nicht relevant war. Umgekehrt scheinen seine wissenschaftlichen und nationalen Ansichten seine Arbeit zur mennonitischen Geschichte geprägt zu haben. Braden Hiebners neure Studie zu dieser Frage bemerkte, dass sich sein Ansatz beim Schreiben des Buches über die Wehrfreiheit auf die Geschichte konzentrierte und er den mennonitischen Umgang mit der Geschichte so untersuchte, wie er es in seinen Studien zu anderen bäuerlichen Gruppen tat. Dieser abstraktere Ansatz machte ihm die Aufgabe, ein Buch zu schreiben, mit dessen Absicht er nicht übereinstimmte, schmackhafter und hob seine außerordentlichen professionellen und akademischen Fähigkeiten besonders stark hervor.
Werke (Auswahl)
Zur Anthropologie der Germanen: Ein germanologischer Versuch, Phil. Diss., Universität Berlin 1854, Staatsbibliothek Berlin, Haus 2, Wilhelm Mannhardt Papiere, Karton 17. - Germanische Mythen: Forschungen, Berlin, 1858. - Die Götterwelt der deutschen und nordischen Völker, Berlin 1860. - Roggenwolf und Roggenhund, Danzig 1865. - Die Korndämonen, Berlin 1868. - Wald- und Feldkulte. 2 Bde., Berlin 1875–77. - Klytia, Berlin 1875. - Die praktischen Folgen des Aberglaubens, mit besonderer Berücksichtigung der Provinz Preußen, in: Deutsche Zeit- und Streitfragen 7, 1878, 1–88. - Gedichte, Danzig 1881. - Die Wehrfreiheit der Altpreußischen Mennoniten, Marienburg 1863. - Zur Wehrfrage, in: Mennonitische Blätter 15, Nr. 9, 1868,74–76; 16, Nr. 1, 1869, 5–8; Nr. 2, 12–5; Nr. 4, 31–4; Nr. 5, 37–41; Nr. 6, 48–50; 17, Nr. 1, 1870, 3–4. - Hermann Patzig (Hg.), Mythologische Forschungen aus dem Nachlasse von Wilhelm Mannhardt, Straßburg 1884.
Literatur
Richard Beitl, Wilhelm Mannhardt und der Atlas der deutschen Volkskunde, in: Zeitschrift für Volkskunde 42, 1933, 70–84. - Peter Brock, Freedom from Violence: Sectarian Nonresistance from the Middle Ages to the Great War, Toronto 1991. - Ders., Pacifism in Europe to 1914, Princeton 1972. - Ernst Crous, Vom Pietismus bei den altpreußischen Mennoniten im Rahmen ihrer Gesamtgeschichte 1772–1945, in: Mennonitische Geschichtsblätter 11, 1954, 7–29. - Alan Dundes (Hg.), International Folkloristics: Classic Contributions by the Founders of Folklore, Lanham, Md., 1999. - Erich Göttner, Art. Mannhardt, Wilhelm, in: Mennonitisches Lexikon 3, 16–17. - Braden Hiebner, Wilhelm Mannhardt: German Mennonite Nationalist, in: Mennonite Historical Bulletin 68, Bd. 4, 2007, 10–15. - Mark Jantzen, German Mennonite Soldiers: Nation, Religion, and Family in the Prussian East, 1772–1880, Notre Dame, Ind. 2010. - H. G. Mannhardt, Zur Entstehung und Geschichte der Königlichen Kabinettsordre vom 3. März 1868, betreffend den Heeresdienst der Mennoniten, in: Christlicher Gemeinde-Kalender 28, 1919, 97–107. - G. Mannhardt, J. W. E. Mannhardt, Danzig 1881. - Wilhelm Scherer, Art. Mannhardt, Wilhelm, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 20, 203–205. - Karl Scheuermann, Wilhelm Mannhardt. Seine Bedeutung für die vergleichende Religionsforschung, (Phil. Diss. Universität Gießen, 1933. - George S. Williamson, The Longing for Myth in Germany: Religion and Aesthetic Culture from Romanticism to Nietzsche, Chicago, 2004.
Mark Jantzen