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Voolstra, Sjouke
geb. am 26. März 1942 in Sorreborre (Friesland), Niederlande, gest. am 12. Oktober 2004 bei einem Seeunglück auf dem Ijsselmeer, Niederlande; Theologe, Kirchenhistoriker am Doopsgezinde Seminarie und an der Universität von Amsterdam.
Sjouke Voolstra schloss das Gymnasium in Heerenveen ab und entschloss sich 1963, an der Universität Amsterdam und am Doopsgezind Seminarie Theologie zu studieren. 1970 heiratete er Trijntje Bottema, sie bekamen später zwei Töchter. In demselben Jahr wurde er noch vor dem Abschlussexamen vorübergehend Pastor am Vrijzinnig Protestants Contact Centrum (Freisinnigen Protestantischen Kontaktzentrum) in Ost- Flevoland, einem Zusammenschluss kleiner kirchlicher Gemeinschaften in einem gerade neu eingepolderten Gebiet der Niederlande. Er predigte in Dronten, Lelystad und Harderwijk. Voolstra beendete sein Studium im Jahre 1971 und wurde 1975 offiziell zum Predigtamtskandidat ernannt. 1972 erfolgte seine Anstellung als Mennonitenprediger in Zeeland (Middelburg, Goes, Vlissingen), von wo er 1978 nach Eindhoven übersiedelte, um schließlich von 1982 bis 1984 Prediger in Amsterdam zu werden. Daneben studierte er weiter und wurde von Irvin B. →Horst und Johannes A. →Oosterbaan mit einer systematisch-theologischen Studie zur Menschwerdungslehre Melchior →Hoffmans cum laude promoviert. Diese Studie eröffnete ihm sowohl die Gedankenwelt der systematischen Theologie als auch der Kirchengeschichte. In beiden Fachgebieten wurde er Dozent am Taufgesinntenseminar: seit 1981 als Dozent christlicher Glaubenslehre und Ethik, ab 1984 als von der Kirche eingesetzter Hochschullehrer und Nachfolger von Professor Oosterbaan, in dieser Rolle zugleich als Dozent für die Geschichte des Täufertums und seit 1988 auch für Mennonitica. Von 1990 bis 1995 war er Rektor des Taufgesinntenseminars, im Jahre 1998 wurde er erneut zum Professor der Theologie und Geschichte der Mennoniten an der inzwischen neugestalteten Fakultät der Geisteswissenschaften an der Universität von Amsterdam ernannt. Am 1. Juli 2002 wurde er vorzeitig emeritiert.
Sjouke Voolstra war ein Mann mit breit gefächerten Interessen und hätte ebenso wie Theologie auch Niederlandistik oder Architektur studieren können. Dessen ungeachtet war er ein sehr engagierter Theologe, ein gewissenhafter Prediger und einer, der versuchte, seinen theoretischen Forschungen praktische Seiten abzugewinnen und mit ihnen etwas in den Mennonitengemeinden zu bewirken. Seine Schriften weisen ihn als einen typisch historisch-systematischen Theologen aus. Seine zahlreichen historischen Untersuchungen verfolgten stets ein deutliches theologisches Ziel.
1975 wurde er stark in die Organisation einer Ausstellung über die Mennoniten im Rijksarchief Zeeland (Archiv für die Provinz Zeeland) eingebunden, das ihm den Anstoß für sein lebenslanges Interesse an der Kirchengeschichte gab. In diese Zeit fiel auch die Gründung des →Doopsgezinde Historische Kring, der eine inzwischen nicht mehr bestehende Zeitschrift aus dem 19. Jahrhundert, die Doopsgezinde Bijdragen, zu neuem Leben erweckte. Voolstra war einer der Gründer und jahrelang einer der wichtigsten Mitarbeiter, Redaktionsmitglieder und Antriebskräfte dieser Zeitschrift, die auch durch seine Mitarbeit zu einer Zeitschrift von internationalem Rang heranwuchs. Sein Grundgedanke war dabei immer, dass Geschichte nicht aus antiquarischen Gründen, sondern stets nur zur gegenwärtigen Inspiration für die taufgesinnte bzw. mennonitische Gemeinschaft betrieben werden sollte. Sie war für ihn eine Spurensuche nach Triebfedern aus der Vergangenheit. Schon allein vom Inhalt her führte diese Betrachtungsweise zu einem tatsächlich neuen oder erneut zurechtgerückten Bild von der täuferischen Vergangenheit, die allzu lange einseitig nur als Vorgeschichte einer freisinnigen Einstellung und liberalen Theologie erforscht worden war. So war es auch dem Wirken Voolstras zu verdanken, dass ein viel breiteres und differenzierteres Bild der konfessionellen Geschichte entstand. Es kamen nicht nur die aufgeklärten Vorgänger als wahre Täufer in den Blick, sondern auch in starkem Maße die eher traditionellen Strömungen, die nach Voolstras Meinung in vielerlei Hinsicht mehr Verwandtschaft mit den Täufern des 16. Jahrhunderts aufwiesen als jene.
Neben seiner Arbeit an den Doopsgezinde Bijdragen war Voolstra auch eifrig damit beschäftigt, historische Quellen herauszugeben, die in den Manuscripta Mennonitica und den Doperse stemmen veröffentlicht wurden. Neben diesem kirchengeschichtlichen Interesse beschäftigte er sich tiefgreifend mit den Kernstücken täuferischer Theologie und griff auch hier auf die Gründerväter im 16. Jahrhundert zurück. Vor allem seine Dissertation über Melchior →Hoffmans Christologie muss in diesem Licht gesehen werden: Het woord is vlees geworden; de melchioritisch-menniste incarnatieleer (1982). Der Titel zeigt bereits, dass das tatsächliche Thema nicht nur ein dogmatischer Lehrsatz aus der Vergangenheit war, sondern dass Voolstra damit einen Beitrag zum praktischen Lebensvollzug der Gläubigen heute leisten wollte. Es zeigte sich, dass die besondere Inkarnationslehre von Melchior Hoffman und Menno →Simons keine kuriose täuferische Eigenart war, sondern die konsequente Ausführung einer ekklesiologischen Position, die der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen sola gratia gerecht zu werden versuchte. In dieser Untersuchung verbindet sich ein wissenschaftlich zu verantwortender Zugang zur Inkarnationslehre mit einer deutlich theologischen Position, die in gewisser Weise sogar in ein Glaubensbekenntnis einmündet. Dieser umfassende Anspruch, eine sorgfältige historische oder systematisch-theologische Studie in Kombination mit einer Glaubensaussage, war für Voolstra charakteristisch. In gewisser Weise stand er mit seiner Auffassung, dass das lebendige Wort in die Welt der Menschen hinein bricht, in der Linie der Dialektischen Theologie, wie sie von Karl →Barth und Emil Brunner vertreten wurde. So war Voolstra in all seiner Komplexität und Einmaligkeit theologisch ein Kind seiner Zeit. 1966 hielt er Vorlesungen am Bethel College in Kansas (USA) und veröffentlichte sie unter dem Titel Menno Simons. His Image and Message (1999). Diese Veröffentlichung könnte wohl als sein bestes Buch bezeichnet werden. Er wuchs mehr und mehr zu einer Autorität in täuferischer Geschichte und Glaubenslehre heran. Allerdings suchte er selber mehr als nur akademische Anerkennung, er strebte vielmehr nach einer neuen Orientierung des gegenwärtigen Mennonitentums am Glauben der Väter des 16. Jahrhunderts. Aus einer Fülle von Gründen ist ihm das nicht ganz und gar gelungen, und genau das ist der Grund, warum Piet Visser ihn einen „frustrierten Visionär“ nannte, d. h. einen Menschen, der über das mangelnde Echo auf seinen Aufruf zur Neuorientierung des Glaubens in seiner eigenen Glaubensgemeinschaft enttäuscht war.
Voolstras Absicht wurde entweder missverstanden oder nur halb begriffen, dann wieder als altmodisch oder sogar fundamentalistisch kritisiert, außerdem waren die niederländischen Taufgesinnten so stark vom freisinnigen Geist des 19. Jahrhunderts und dessen Folgen geprägt, dass der Aufruf, zum lebendigen Glauben des 16. Jahrhunderts umzukehren, für viele zu plötzlich kam. Außerdem wurde Voolstras Eifer gelegentlich für Schärfe oder Rechthaberei gehalten, wie ihm die Klarheit und Knappheit einer unakademischen Sprache als Besserwisserei oder Arroganz ausgelegt wurde.
Zusätzlich zu seiner Arbeit als Hochschullehrer engagierte sich Voolstra auch sonst noch in den Mennonitengemeinden. So war er langjähriger Berater oder Vorsitzender der Mennonitischen Friedensgruppe, verwaltete verschiedene mennonitische Fonds, arbeitete im Bruderschaftsrat mit und war Mitglied in verschiedenen anderen Ausschüssen der →Algemeene Doppsgezinde Societeit. Auch außerhalb der Mennonitengemeinden war er aktiv, unter anderem als Vorsitzender der Vereniging voor Nederlandse kerkgeschiedenis (1992–2000). Diese ökumenische Vereinigung veröffentlichte eine Zeitschrift, die unter seiner Leitung zu einer respektierten wissenschaftlichen Plattform heranwuchs: die Tijdschrift voor de Nederlandse Kerkgeschiedenis. Hier halfen ihm die Erfahrungen, die er vorher in der Schriftleitung der Doopsgezinde Bijdragen sammeln konnte.
Sjouke Voolstra war ein Mensch, der gelegentlich das Abenteuer suchte. In seiner Freizeit war er ein erfahrener Hochseesegler, der mehrere Male die Nordsee nach England im eigenen Boot überquert hatte. Perfektionist, der er war, war alles bis ins Detail vorbereitet und abgesichert, wenn auch nicht immer der bequemste Kurs gesegelt wurde. Als er Ende 2004 sein Boot verkaufen und es über das Ijsselmeer nach Friesland überführen wollte, stürzte er unglücklicherweise über Bord und verlor sein Leben. Da er noch voller privater und wissenschaftlicher Pläne war, wurde die Nachricht von seinem Tod überall mit Bestürzung aufgenommen. Er wurde in Friesland beerdigt, ganz in der Nähe jenes Dorfes, in dem er einst geboren wurde.
Schriften (Auswahl)
Voortrekkers en stilstaanders; vijftien generaties dopers leven in Zeeland, Middelburg 1975. - Vreemdelingen en bijwoners: vredesgetuigenissen uit het Nederlandse doperdom, Doperse stemmen 3, Amsterdam 1979. - Het woord is vlees geworden: de melchioritisch-menniste incarnatieleer, Kampen, 1982. - Vrij en volkomen: rechtvaardiging en heiliging in dopers perspectie, Kampen 1985. - Menno Simons : His Image and Message, North Newton, KS, 1999. - Beeldenstormer uit bewogenheid: verzamelde opstellen van Sjouke Voolstra, Hilversum, 2005.
Auswahl der Aufsätze und Bibliografie der Veröffentlichungen S. Voolstras: A. Voolstra u. a. (Hg.), Beeldenstormer uit bewogenheid. Verzanelde opstellen van Sjouke Voolstra. Hilversum 2005.
Literatur
Piet Visser, Sjouke Voolstra. De Schrift niet allemans dinck en is. In: L.Brussee-van der Zee u. a. (Hg.), Balanceren op de smalle weg, Zoetermeer 2002, 19–27. - Alle G. Hoekema, In memoriam Prof. Dr. Sjouke Voolstra, in: Doopsgezind Jaarboekje, 2005, 19–20; 2006, 9–11. - Piet Visser, In memoriam Prof. Dr. Sjouke Voolstra (1942–2004), in: Doopsgezinde Bijdragen 30, 2004, 13–36; und in: Mennonitische Geschichtsblätter 2005, 187–190.
Jelle Bosma