Inhaltsverzeichnis
Paraguay
1. Geographischer und staatlicher Rahmen
Paraguay ist ein Binnenland im Herzen Südamerikas, umgeben von den drei Nachbarländern Brasilien, Argentinien und Bolivien, mit einer Bevölkerungsanzahl von 6.900.000 Einwohnern, davon leben 63,5% im städtischen Umfeld (UNDP, 2015).
Ackerbau und Viehzucht bilden die Haupteinnahmequellen der paraguayischen Bevölkerung. Nach dem Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2015 steht Paraguay auf Platz 112 von 188 Ländern und fällt damit in die Kategorie der mittleren menschlichen Entwicklung. Das Bruttonationaleinkommen pro Kopf liegt bei 7.643 US $ (UNDP und Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, 247). Trotz der guten Fortschritte in der makroökonomischen Entwicklung des Landes ist die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in Paraguay wie in den meisten Ländern Lateinamerikas ein großes Problem.
Nach Angaben der letzten publizierten Volkszählung aus dem Jahr 2002 bezeichnen sich 89,6 % der paraguayischen Bevölkerung ab zehn Jahren als katholisch und 6,1 % als evangelisch (Dirección General de Estadística, Encuestas y Censos, 129). Laut der Zählung der Mennonitischen Weltkonferenz leben in Paraguay rund 35.900 getaufte Mitglieder der Mennonitengemeinden (Stand 2015) aus recht unterschiedlichen Sprach- und Kulturgruppen (→Lateinamerika). Rund 34 % gehören den sogenannten fortschrittlich gesinnten mennonitischen Gemeinden mit Migrationshintergrund an, 16 % sind Mitglieder traditioneller und zum Teil auch sehr verschlossener mennonitischer Gemeinden mit Migrationshintergrund, 23 % gehören zu spanischsprachigen mennonitischen Gemeinden und 27 % sind mennonitische Gemeindemitglieder einer indigenen Kulturgruppe. Aus diesen Angaben folgt, dass die Hälfte der getauften Mennoniten in Paraguay europäische Wurzeln haben. Ihre Muttersprache ist Deutsch bzw. Plattdeutsch (→Plautdietsch). Die andere Hälfte der Mennoniten ist entweder spanischsprachig oder mit einer indigenen Muttersprache aufgewachsen.
2. Zur Geschichte der mennonitischen Einwanderung in Paraguay
Abgesehen von einigen kleinen Gruppen konservativer Mennoniten aus Nordamerika sind die anderen mennonitischen Einwanderer in Paraguay preußischer bzw. russischer Herkunft. Sie gehören den so genannten Koloniemennoniten an, die kulturell vor allem durch das Kolonisationsprojekt der russischen Kaiserin Katharina d. Gr. und ihrer Nachfolger im 18. und 19. Jahrhundert geprägt wurden. Das Muster der in Russland üblichen Siedlungsform wurde ziemlich originalgetreu als religiös geprägtes kulturelles Erbe nach Paraguay verpflanzt, so dass auch hier von mennonitischen Kolonien gesprochen wird. Diese Siedlungsform besteht „aus einer Gemeinschaft von Mennoniten, die auf einem Territorium, auf das die Gemeinschaft einen Landtitel besitzt, wohnen und wirtschaften und dieses gemeinschaftlich und weitgehend autonom verwalten“ (Michael Rudolph, Art. Kolonie, 246). Dabei sind der gemeinsame Glaube, die Zugehörigkeit zur Gemeinde, die eigenen Schulen, die gemeinsame Sprache und die kulturell bedingten Sitten und Gebräuche entscheidende identitätsstiftende Elemente.
Bevor es zu dieser Ansiedlung in Paraguay kam, waren mit der paraguayischen Regierung Privilegien ausgehandelt worden, um den rechtlichen Rahmen der Kolonisation abzusichern. Nach heftigen Diskussionen in der paraguayischen Presse und im Parlament wurde 1921 das Gesetz Nr. 514 erlassen, das den Mennoniten unter anderem die Rechte zusprach, ihren Glauben frei auszuüben, vom Militärdienst befreit zu sein, eigene Schulen zu führen, die deutsche Sprache zu pflegen, Erbschaftsgüter und eine eigene Feuerversicherung selbst zu verwalten und andere spezifische Rechte wahrzunehmen (vgl. Heinz Dieter Giesbrecht, 2011, 132 ff.).
Mit diesen Privilegien war ein wesentlicher legaler Rahmen für die Einwanderung der sogenannten Koloniemennoniten geschaffen worden. So entstand 1927 im Chaco Paraguays die erste mennonitische Siedlung mit dem Namen „Menno“, die zum Zeitpunkt ihrer Gründung 1280 Personen zählte, die ihr Heimatland Kanada verlassen hatten, weil die Regierung Reformen im Schulwesen der Mennoniten einführen wollte. Rund 2000 Mennoniten kamen zwischen 1930 und 1932 als Flüchtlinge aus der Sowjetunion nach Paraguay und gründeten die Kolonie Fernheim und später die Kolonie Friesland. In den Jahren 1947 bis 1948 wanderten nochmals rund 4169 mennonitische Flüchtlinge, die beim Rückzug des deutschen Militärs aus der Sowjetunion nach Westeuropa gelangt waren, in Paraguay ein und gründeten die Kolonien Neuland und Volendam. Ebenfalls ab 1948 wanderten verschiedene konservative Gruppen aus Kanada und Mexiko nach Paraguay und gründeten hier die Kolonien Sommerfeld, Bergthal, Reinfeld, Rio Verde, Santa Clara, Nuevo Durango und Manitoba (vgl. Gerhard Ratzlaff, 2001, 23 ff. und Heinz Dieter Giesbrecht, 2011, 134 f.). Die Nachkommen eingewanderter Mennoniten in Paraguay werden gegenwärtig mit rund 33.700 Personen beziffert (ACOMEPA, 2015).
3. Die kulturelle und geistliche Vielfalt der mennonitischen Präsenz in Paraguay
Die fortschrittlich gesinnten Mennoniten mit Migrationshintergrund
Die Ansiedlung der Mennoniten in Paraguay war mit unsagbar schweren Opfern verbunden und wäre ohne die Unterstützung der nordamerikanischen Mennoniten nicht möglich gewesen. Das →Mennonite Central Committee (MCC) war das Hilfswerk, das die Ansiedlung und Entwicklung der nach Paraguay gelangten Mennoniten anleitete und prägte.
Die ersten fünfundzwanzig Jahre der mennonitischen Siedler in Paraguay waren vom Kampf ums Überleben gezeichnet. Erst um die Mitte der 1950er Jahre kam es zur Überwindung der existentiellen Krise. Ein wesentlicher Faktor für die wirtschaftliche Stabilisierung und den langsam einsetzenden Aufschwung war der durch das MCC vermittelte Kredit der US-Regierung von einer Million Dollar, der den Kolonien Menno, Fernheim, Neuland, Friesland und Volendam zugutekam. Nun setzte die Mechanisierung der landwirtschaftlichen Produktion ein und diese fünf Siedlungen schlossen sich in einem Verband, heute ACOMEPA genannt, zusammen, um sich gemeinsam den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Herausforderungen zu stellen. Ebenfalls entscheidend für den wirtschaftlichen Aufschwung war der durch das MCC zustande gebrachte Bau einer Verbindungsstraße, die die Kolonien Menno, Fernheim und Neuland mit der rund 500 km entfernten Hauptstadt Asunción verband und 1961 abgeschlossen wurde (vgl. Heinz Dieter Giesbrecht, 2009, 71 f.). Die wirtschaftliche Entwicklung der fortschrittlich gesinnten Mennoniten in Paraguay wird seit der Gründung der ersten Kooperative im Jahr 1930 von der genossenschaftlichen Kooperation der Primärproduzenten geprägt.
Auch im Bildungsbereich der Mennoniten sind nach bescheidenen Anfängen einfacher Dorfschulen vor allem seit den 1950er Jahren deutliche Fortschritte zu erkennen. Seit den 1960er Jahren wurden gezielt Bemühungen unternommen, die privaten, größtenteils in deutscher Sprache geführten Schulen vom paraguayischen Staat anerkennen zu lassen und bis zur Hochschulreife auszubauen. Ziel war und ist es dabei, einerseits die eigenen kulturellen und geistlichen Werte und damit verbunden die deutsche Sprache zu bewahren und gleichzeitig die Jugend für die Integration in den nationalen Kontext und für das Studium an paraguayischen Universitäten vorzubereiten. Die Schulen der fortschrittlich gesinnten Mennoniten mit Migrationshintergrund werden zweisprachig geführt und bis in die Gegenwart materiell und personell über die deutsche Zentralstelle für das Auslandsschulwesen gefördert und unterstützt.
Aus den bescheidenen Initiativen zur Lehrerausbildung in Fernheim entstand 1955 ein Lehrerseminar, das seit 1974 als staatlich anerkannte tertiäre Ausbildungsinstitution für Primarschullehrer funktioniert (Jakob Warkentin, Instituto de Formación Docente, 222 f.). Die fünf Kolonien Menno, Fernheim, Neuland, Friesland und Volendam hatten bereits 1974 die allgemeine Schulbehörde gegründet, die sich seit diesem Zeitpunkt für gemeinsame Bildungsanliegen einsetzte und neben dem Lehrerseminar auch weitere berufsbildende Institutionen gründete (Jakob Warkentin, Allgemeine Schulbehörde, 13 f.).
Die Siedler der Kolonie Fernheim brachten aus Deutschland eine kleine Druckerei mit und begannen bereits 1930 mit der Herausgabe des Mennoblatt. Hier werden seit diesem Zeitpunkt ununterbrochen geistliche, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen der Mennoniten in Paraguay beschrieben, kommentiert und diskutiert. Im Jahr 1999 wurde der Verein für Geschichte und Kultur der Mennoniten in Paraguay mit dem Ziel gegründet, das historische Erbe, das Glaubensgut und das kulturelle Leben der deutschsprachigen Mennoniten in Paraguay zu beschreiben, zu analysieren, zu pflegen und zu fördern. Der Verein publiziert seit dem Jahr 2000 im Jahrbuch für Geschichte und Kultur der Mennoniten in Paraguay Aufsätze zu einem jeweils neu definierten Schwerpunktthema, organisiert Symposien und hat auch das Lexikon der Mennoniten in Paraguay (2009) herausgegeben.
Mit großem Aufwand wurden in den Kolonien eigene Krankenhäuser errichtet und Krankenschwestern ausgebildet, da der Staat im Siedlungsgebiet der Mennoniten praktisch abwesend war. Mit der Zeit entwickelten sich immer formellere Strukturen der Sozialfürsorge. Gegenwärtig funktionieren diese in der legalen Form eines bürgerlichen Vereins, in dem die Mitglieder durch ihre Abgaben die Kosten für den Unterhalt von Krankenhäusern, Altenheimen, sozialen Beratungsstellen und einer psychiatrischen Klinik gemeinsam tragen.
Die Solidarität und Zielstrebigkeit, mit der man sich in den Kolonien der fortschrittlich gesinnten Mennoniten seit Jahrzehnten den Herausforderungen gestellt hat, hat dazu geführt, dass diese Siedlungen wie Wohlstandsinseln wahrgenommen werden. Das damit verbundene wirtschaftliche und soziale Gefälle den anderen Kulturgruppen gegenüber, die ebenfalls in diesen Siedlungsgebieten leben, wird immer wieder mit Sorge thematisiert. Hinzu kommt, dass der wirtschaftliche Wohlstand und Reichtum der Mennoniten mit Migrationshintergrund auch die typischen Begleiterscheinungen zunehmender Individualisierung und Säkularisierung erkennen lassen, und das trotz der Tatsache, dass rund 60 % der Einwohner dieser mennonitischen Kolonien getaufte Gemeindeglieder sind (vgl. Jacob Harder, 2000, 76 ff.).
Das christliche Zeugnis
So handelt es sich im Koloniemennonitentum nicht mehr, wie bei den ersten Täufern, um eine reine Bekenntnis- und Glaubensgemeinschaft, sondern auch um ein Gemeinwesen mit einer bestimmten kulturellen Ausprägung. Die kulturelle Ausrichtung führte sogar in den 1940er Jahren in der Kolonie Fernheim dazu, dass ein großer Teil der Siedler sich voll mit dem nationalsozialistischen Deutschland (→Drittes Reich) identifizierte, was erhebliche Spannungen und Auseinandersetzungen mit sich brachte. Das beeinflusst natürlich auch die Identität der Glaubensgemeinde innerhalb der mennonitischen Kolonie. Aus geschichtlicher Perspektive kann festgestellt werden, dass die Glaubensgemeinde im Koloniekontext immer wieder stark dazu neigte, volkskirchlichen Charakter anzunehmen und sich auf diese Weise von dem täuferischen Ideal der radikal abgesonderten Bekenntnisgemeinschaft mit gezielt missionarischem Wirken distanzierte. So wurde die Taufe auf den persönlich bezeugten Glauben bereits in den Kolonien in Russland zu einer selbstverständlichen Erwachsenentaufe, was wiederum eine geistliche und moralische Verflachung der Gemeinden mit sich brachte (vgl. Heinz Dieter Giesbrecht, 2011, 137 ff.).
Die konservativen bzw. traditionellen Koloniemennoniten, die als erste Gruppe nach Paraguay kamen und die Kolonie Menno gründeten, wurden nicht nur im Gemeindeleben, sondern auch in ihren wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Belangen vom Ältesten der Gemeinde geführt. Allerdings brachten die Flüchtlinge, die ab 1930 nach Paraguay kamen, neue Impulse mit, die die Folge einer pietistisch geprägten Erneuerungsbewegung in den 1860er Jahren in Russland waren. Die persönliche Glaubensentscheidung durch Bekehrung, Wiedergeburt und Taufe, der Bruch mit dem zentralistischen Ältestensystem sowie das missionarische Engagement waren wesentliche Ausdrucksformen ihrer erneuerten mennonitischen Frömmigkeit (vgl. Alfred Neufeld, 2001, 86 ff.), die bis heute typische Merkmale der fortschrittlich gesinnten Mennoniten sind.
Eine wesentliche Erfahrung, die viele Fragen auslöste, war die Begegnung der mennonitischen Siedler mit dem indigenen Volksstamm der nomadisierenden Enhlet, in deren Wohngebiet sie ohne ihr Wissen gekommen waren. Obwohl die Begegnung friedlich verlief, entstand unter einer Gruppe von mennonitischen Siedlern sehr schnell die Überzeugung, dass damit eine missionarische und diakonische Verantwortung verbunden sein würde. Bereits 1935 entstand der Missionsbund „Licht den Indianern“, bei deren Gründung sich 97 Personen aus den verschiedenen Gemeinden Fernheims als Mitglieder registrieren ließen. Aus den bescheidenen Anfängen der Missionsarbeit entstanden indianische Gemeinden und mit Beratung und Unterstützung des MCC ein sehr ausgedehntes Projekt integraler Entwicklungsarbeit, so dass seit 1976 die wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitsfördernden Programme in den indigenen Siedlungen von dem diakonischen Werk ASCIM (Vereinigung der Dienste für indianisch-mennonitische Zusammenarbeit) wahrgenommen werden (vgl. Heinz Dieter Giesbrecht, 2011, 162 ff.). Die ASCIM hat seit ihrer Gründung gemeinsam mit anderen Organisationen ungefähr 160.000 Hektar Land im Chaco Paraguays an indigene Gruppen vermittelt.
In Kooperation mit den Gemeinden der fortschrittlich gesinnten Mennoniten wurde vom MCC aus auch die diakonische Arbeit unter der lateinparaguayischen Bevölkerung Ostparaguays in die Wege geleitet. So entstanden 1951 ein Hospital für Leprakranke und der „Christliche Dienst“, eine Organisation, die vor allem im Umkreis von Asunción wirtschaftlich und sozial Benachteiligten durch den Einsatz von Freiwilligen aus den mennonitischen Gemeinden in jeder Hinsicht hilft. Diese vom MCC initiierten diakonischen Werke führten zur engen Kooperation der fortschrittlich gesinnten mennonitischen Gemeinden, die seit 1966 in einem Verband mit dem Namen „Gemeindekomitee“ zusammengeschlossen sind. Dazu gehören gegenwärtig 32 deutschsprachige Mennonitengemeinden Paraguays. Sie sind auch die Träger des „Christlichen Dienstes“ (SERVOME) und des Hospitals für Leprakranke (Km 81 genannt). 1955 wurde die Evangelistions- und Missionsarbeit unter der lateinparaguayischen Bevölkerung in Asunción und Ostparaguay gestartet, finanziert und begleitet von der Missionsbehörde der nordamerikanischen Mennoniten.
Die Konferenzen bzw. Gemeindeverbände der fortschrittlich gesinnten Mennoniten sind seit den 1960er Jahren missionarisch sehr aktiv. Zu den bekannten Dienstbereichen gehört die Medienmission durch Radio und Fernsehen, die Gründung und Führung christlich orientierter Schulen und die 1994 mit anderen evangelikalen Gemeindeverbänden gegründete Evangelische Universität Paraguays, die gegenwärtig über zwölf Fakultäten verfügt. Teil dieser evangelischen Universität ist auch die theologische Fakultät, die aus den bereits seit den 1960er Jahren bestehenden theologischen Seminaren der Mennonitengemeinden und der Mennoniten-Brüdergemeinden gebildet wurde.
Die soziale, diakonische und kulturelle Öffnung der fortschrittlich gesinnten Mennoniten führte auch zur Präsenz der Mennoniten in der Politik, als das Regime unter Alfred Stroessner 1989 nach 35-jähriger Diktatur gestürzt und 1992 eine neue demokratische Verfassung verabschiedet wurde. Die Mennoniten waren Teil der ökumenischen Lobbygruppe im Entstehungsprozess dieser Verfassung und haben sich unter anderem stark dafür eingesetzt, dass das Prinzip der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen als allgemeines Recht durchgesetzt wurde (vgl. Gerhard Ratzlaff, Coordinadora de Iglesias, 99 ff.). Auch bekleiden immer wieder einzelne Mennoniten unter den neuen Rahmenbedingungen politische Ämter, z. B. als Abgeordnete im Kongress, als Gouverneure, Bürgermeister und Minister.
Die traditionellen Mennoniten mit Migrationshintergrund
Rund 45 % der in Paraguay eingewanderten Mennoniten und ihrer Nachkommen leben in traditionellen, sozial isolierten Kolonien Ost-Paraguays. Die Bewahrung der übernommenen, alten Ordnung, die sich unter anderem in bestimmten Kleidungstrachten, in der Ablehnung von elektrischem Strom und modernen Fahrzeugen sowie einer ausgesprochenen Bildungsfeindlichkeit äußern kann, gilt als Hauptanliegen: „Die Gemeinde und ihre Autorität in der Person des Ältesten und des Lehrdienstes steht im Mittelpunkt der Siedlungsgemeinschaft. Die Gemeinde ist das bestimmende Organ auch für Schule und Verwaltung der Kolonie. Alle erwachsenen Bürger sind Glieder der Gemeinde und niemand wird in die Kolonie aufgenommen, der nicht zuerst Glied der Gemeinde wird. Der Heirat muss in jedem Fall die Taufe vorangehen (…). Der Taufe geht der Katechismusunterricht voraus, den jeder vor der Taufe kennen muss. Der Wortlaut des Katechismus stammt aus dem Jahr 1783 aus Elbing in Preußen und ist von Generation zu Generation neu aufgelegt und weitergegeben worden“ (Gerhard Ratzlaff, Traditionelle Mennoniten in Paraguay, 2009, 413).
In den Kolonien der traditionellen Mennoniten kommt es immer wieder zu starken Spannungen, die sich an der Frage entzünden, ob und inwieweit man sich gewissen modernen Lebensformen anpassen soll. Vor allem jugendliche Bewohner dieser Kolonien versuchen, aus den starren Formen auszubrechen, und es entstehen neben der traditionellen Gemeinde einzelne neue Gemeindegruppen, die sich von den fortschrittlich gesinnten Mennoniten beraten lassen. Auch sind in der Vergangenheit einige konservative Älteste, die sich konsequent gegen jegliche Veränderung wehren, mit ihren Gesinnungsgenossen nach Bolivien ausgewandert, um dort neue Kolonien zu gründen.
Die indigenen Mennoniten in Paraguay
Wie bereits beschrieben, kam es im paraguayischen Chaco, dem Siedlungsgebiet der eingewanderten Mennoniten, zu einer friedlichen Begegnung mit indigenen Nomaden und zur Entstehung missionarischer und diakonischer Institutionen, die aus der Sicht der Einwanderer drei grundlegende Ziele verfolgten, nämlich die Verkündigung des Evangeliums, die Ansiedlung der Indigenen auf eigenem Land und die Entwicklung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Strukturen, wie sie die Koloniemennoniten selbst kannten und pflegten (vgl. Hein Dieter Giesbrecht, Mennonitische Diakonie, 224 ff.). Wie Hannes Kalisch und Ernesto Unruh durch jahrelang systematisch gesammelte Erfahrungsberichte der Enlhet-Indianer herausgefunden haben, ging es allerdings aus der Sicht der Indigenen selbst weniger darum, ihre eigene Lebensweise aufzugeben, als vielmehr wohl darum, diese durch neue Erfahrungen und Vorteile zu bereichern, und zwar im Sinn eines Freundschaftsbündnisses mit den eingewanderten Mennoniten (Hannes. Kalisch und Ernesto Unruh, Wie schön ist deine Stimme, 2014).
Nach mehr als achtzig Jahren gezielter Interaktion der nordeuropäisch geprägten Koloniemennoniten mit ihren indigenen Nachbarn, die aus unterschiedlichen Kulturgruppen animistisch orientierter Jäger und Sammler stammen, ist unschwer zu erkennen, dass sich die Strukturen der Koloniemennoniten durchgesetzt haben. Im zentralen Chaco Paraguays leben gegenwärtig nach Angaben der ASCIM rund 25.000 indigene Personen aus neun verschiedenen Ethnien, die etwa 52 % der Bevölkerung dieser Zone ausmachen. Der größte Teil dieser indigenen Bevölkerung lebt in fünfzehn landwirtschaftlichen und sechs urbanen Siedlungen, die von der ASCIM beraten werden und im Umfeld der Kolonien der deutschsprachigen Mennoniten liegen. Gewisse Strukturen dieser Siedlungen ähneln denen in den Kolonien der Migrationsmennoniten (z. B. Schulen, Konsumläden, kooperative Wirtschaftsformen und Kirchen), allerdings unterscheidet sich die soziale und wirtschaftliche Entwicklung dieser Siedlungen trotz der jahrzehntelangen Beratung immer noch auffallend vom Lebensstandard der Mennoniten mit Migrationshintergrund.
Die geistliche Begleitung der indigenen Gemeinden wird von den beiden Missionswerken „Licht den Indianern“ und „Menno Indianer Mission“ wahrgenommen, deren Träger die deutschsprachigen mennonitischen Gemeinden sind. Dabei nimmt vor allem die seit 1973 bestehende Bibelschule (Instituto Bíblico Indígena) eine führende Rolle ein. Insgesamt gibt es in diesem Rahmen 46 indigene Gemeinden mit rund 9900 getauften Mitgliedern.
Im Bereich der Bildung sind durch die jahrzehntelange Arbeit der ASCIM viele Schulen in indigenen Siedlungen entstanden. Außerdem gibt es in Yalve Sanga, dem Zentrum der Missionsarbeit, eine Oberstufe mit der Möglichkeit, dass indigene Schüler ein national anerkanntes Zeugnis der Hochschulreife erwerben können. Zusätzlich wird auch eine Landwirtschaftsschule in „La Huerta“ geführt. Seit drei Jahren gibt es in Yalve Sanga ebenfalls einen Lehrgang für indigene Lehrer und Krankenpfleger auf tertiärer Ebene.
Für die Mennoniten indigener Kultur ist die Frage nach der eigenen Identität und die Herausforderung, sich in den regionalen und nationalen Kontext mit einem modernen Wirtschaftssystem und Sozialwesen zu integrieren. Das ist eine nicht leicht zu bewältigende Hürde. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass die indigene Bevölkerung im zentralen Chaco Paraguays am schnellsten wächst und die anderen Kulturgruppen sich der Herausforderung stellen müssen, das gegenseitige Vertrauen zu vertiefen und den sozialen Frieden trotz großer Unterschiede und Ungleichheiten bewusst zu stabilisieren.
Heinz Dieter Giesbrecht
4. Die lateinparaguayischen Mennoniten in Paraguay
Die Mennoniten Paraguays, deren Muttersprache Spanisch bzw. Guaraní ist, leben zum größten Teil in verschiedenen Orten Ostparaguays, vor allem im Umkreis der Hauptstadt Asunción. Ihre Gemeinden sind durch die Missionsarbeit der Mennoniten mit Migrationshintergrund entstanden, aber im Unterschied zu diesen leben sie nicht in kulturell abgegrenzten Siedlungen. Sie lassen sich folgenden fünf Gemeindegruppen zuordnen:
Die Convención Evangélica de Iglesias Paraguayas Hermanos Menonitas
1955 begann die nordamerikanische Konferenz der Mennoniten-Brüdergemeinde durch ihr Missionskomitee (Board of Foreign Missions, später Board of Missions and Service, allgemein als BOMAS bekannt) eine Evangelisations- und Gemeindegründungsarbeit in Asunción. Dazu wurden deutschsprachige Missionare angestellt, die als Einwanderer nach Paraguay gekommen bzw. schon in Paraguay geboren waren. Die neuen Missionare waren in Bibelschulen in Argentinien und Uruguay ausgebildet worden, wo sie auch die spanische Sprache erlernt und sich mit der südamerikanischen Latinokultur vertraut gemacht hatten. So entstand eine etwas ungewöhnliche Partnerschaft, in der die →Mennoniten-Brüdergemeinden aus Nordamerika die Geldmittel bereitstellten, während die Missionare aus den Mennoniten-Brüdergemeinden Paraguays kamen.
1956 wurde das erste Tauffest gefeiert, und 1961 wurde die erste Kirche für eine spanischsprachige mennonitische Gemeinde in Paraguay fertiggestellt. Sechszehn Jahre später gab es vier spanische Mennoniten-Brüdergemeinden, die am 1. Mai 1971 zur Convención Evangélica de Iglesias Paraguayas Hermanos Menonitas (Verband der evangelikalen paraguayschen Mennoniten Brüder Gemeinden) mit insgesamt siebzig Gemeindegliedern zusammengeschlossen wurden. Dieser Gemeindeverband wurde bis zum Jahr 2002 finanziell von den Mennoniten-Brüdergemeinden Nordamerikas unterstützt. Die Partnerschaft mit den deutschsprachigen Mennoniten-Brüdergemeinden wurde bewusst gepflegt und äußert sich unter anderem darin, dass die beiden Gemeindeverbände der Mennoniten-Brüdergemeinden Paraguays gleichberechtigte Träger des theologischen Seminars IBA und des christlichen Radiosenders OBEDIRA sind. Heute zählt die Convención Evangélica de Iglesias Paraguayas Hermanos Menonitas 57 Gemeinden mit insgesamt 3709 Gemeindegliedern.
Die Tochtergemeinden der Asociación Hermanos Menonitas
Nicht alle spanischsprachigen Mennoniten-Brüdergemeinden sind in der sogenannten Convención zusammengeschlossen. Jede der sieben deutschsprachigen Mennoniten-Brüdergemeinden hat ihr eigenes Missionsfeld, auf dem im Laufe der Jahre mehr oder weniger selbstständige Gemeinden entstanden sind. Diese Gemeinden haben die Möglichkeit, sich der spanischsprachigen Convención anzuschließen, ziehen es aber meist vor, eine enge Verbindung zur deutschsprachigen Muttergemeinde beizubehalten. Es handelt sich dabei gegenwärtig um 32 Gemeinden mit insgesamt 1672 Gemeindegliedern.
Die Convención Evangélica Menonita Paraguaya
In den Jahren 1948 bis 1963 hat das Vermittlungskomitee der deutschsprachigen Mennonitengemeinden Paraguays Hilfsgelder von nordamerikanischen Mennoniten an bedürftige Personen weitergeleitet. Nachdem im Laufe der Jahre – und in Zusammenarbeit mit anderen mennonitischen Gemeindeverbänden – einige Hilfswerke entstanden waren, wurde 1963 das Mennonitische Missionskomitee für Paraguay (MMKfP) gegründet, dem auch die Gemeinde der Evangelischen Mennonitischen Bruderschaft (EMB) beitrat. Das Missionskomitee hatte die Aufgabe, Gemeinden unter der spanischsprachigen Bevölkerung Paraguays zu gründen. Drei deutschsprachige Missionare aus den Kolonien im Chaco wurden zu diesem Dienst ausgesandt.
Die durch diese Arbeit in den folgenden fünfundzwanzig Jahren entstandenen Gemeinden schlossen sich 1991 zu einer eigenen Konferenz zusammen, der Convención Evangélica Menonita Paraguaya ( CONEMPAR). Dieser Gemeindeverband zählt gegenwärtig 41 Gemeinden mit insgesamt 2299 Gliedern.
Die Confraternidad Evangélica Menonita del Paraguay
Die Evangelical Mennonite Church aus Nordamerika begann ihre missionarischen Tätigkeiten in Ostparaguay im Jahre 1966. Nachdem 1970 die deutschsprachige mennonitische Kolonie Tres Palmas im Departament Caaguazú gegründet wurde, unterstützte die EMC die geistliche Arbeit in dieser Ansiedlung. Die partnerschaftlichen Beziehungen zwischen der EMC und der Gemeinde in Tres Palmas mündeten in einer gemeinsamen Missions- und Gemeindegründungsarbeit, aus der 14 Gemeinden entstanden, die gegenwärtig 300 Gemeindeglieder haben und in der Confraternidad Evangélica Menonita del Paraguay (Evangelische Mennonitische Bruderschaft in Paraguay) zusammengefasst sind.
Die Iglesia Evangélica Bíblica
Die Evangelische Mennonitische Bruderschaft (EMB) in Filadelfia war lange Zeit Mitglied in der MMKfP. 1990 entschloss sich diese Gemeinde, ein eigenes Missionsfeld zu eröffnen und neue Gemeinden im Großraum Asunción zu gründen. Da der Name „Mennonit“ in Paraguay meist in seiner kulturellen Variante verstanden und einer bestimmten ethnischen Gruppe zugeordnet wird, entschloss sich die EMB, diesen Namen nicht für ihre spanischsprachigen Tochtergemeinden zu verwenden, sondern durch Iglesia Evangélica Bíblica (Evangelikale Biblische Gemeinde) zu ersetzen, die gegenwärtig aus acht Gemeinden mit 315 Gemeindegliedern besteht.
Für die spanischsprachigen Mennoniten Paraguays ist es eine Herausforderung, den mennonitischen Glauben, den sie von den Mennoniten mit Migrationshintergrund übernommen haben, in den Ausdrucksformen ihrer eigenen Kultur zu bezeugen. Dabei wird von beiden Seiten eine dynamische Interdependenz angestrebt, in der sich beide Partner auf Augenhöhe begegnen und gegenseitig bereichern. Die Vollversammlung der →Mennonitischen Weltkonferenz, die 2009 in Asunción tagte, hat diesen Lernprozess sehr positiv gefördert.
Hartwig Eitzen
Bibliografie (Auswahl)
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Hartwig Eizen und Heinz Dieter Giesbrecht