Praktiken
In den letzten Jahrzehnten ist in den Texten zur Täuferforschung und zur mennonitischen Theologie heute wiederholt der Begriff „Praktiken“ (engl. practices) gefallen. Gewöhnlich war die Rede von „Wort und Tat“ oder „Glaube und Praxis“. Doch mit „Praktiken“ sind weder „Tat“ noch „Praxis“ im herkömmlichen Sinne gemeint. Unter „Praktiken“ wird nicht die individuelle Bewährung des Glaubens verstanden, sondern, wie bei John Howard →Yoder beispielsweise zu lesen ist, das in Ordnungen oder im Glaubenskonsens der Gemeindeglieder zum Ausdruck kommende Handeln der Gemeinde: in Gemeindezucht (Bann), Taufe, Abendmahl, Fülle Christi (Reichtum und Entfaltung der Gaben in der Gemeinde), Redefreiheit in der Gemeindeversammlung (1. Kor. 14). Diese Praktiken hat Yoder in seinem Buch Body Politics – Five Practices of the Christian Community Before the Watching World (1991) beschrieben. In den Titel der kürzlich erschienenen deutschen Übersetzung wurden „Practices“ nicht übernommen: Die Politik des Leibes Christi. Als Gemeinde zeichenhaft leben (2012). „Praktiken“ sind „Ordnungen“ (ebd. 129) oder, wie Yoder an anderer Stelle schreibt, „prescribed procedure“ oder „design“ bzw. „ritual“ (Yoder, The War of the Lamb, 143), also nicht Folge individueller Erwägungen und Entscheidungen, sich in bestimmten Situationen so und nicht anders zu verhalten, sondern ein normatives Muster der Gemeinde, nach dem sich das Handeln der einzelnen Gemeindeglieder richtet. „Praktiken“ sind bei Yoder nicht nur handlungsleitende ethische Regeln, wie es wohl in dem von Glenn Stassen herausgegebenen Buch über Just Peacemaking: Ten Practices for Abolishing War (1998) gemeint ist, sondern mehr. Sie sind das Evangelium selbst, sofern sie „alle abgeleitet sind aus dem Erlösungswerk Christi und nicht aus irgendeiner anderen Ebene der Erkenntnis Gottes in der noch ungefallenen Schöpfung oder zeitloser Vernunft“ (John Howard Yoder, Die Politik des Leibes Christi, ebd., 134). „Gut“ ist diese Nachricht (Evangelium), „wenn sie bei den Hörern als hilfreich, rettend und heilsam ankommt“ (ebd., 133). So führen die „Praktiken“ der Gemeinde die „Sichtbarkeit“ der Kirche vor aller Welt herbei, an ihnen wird für alle ablesbar, wie Gott sich die Gesellschaft der Menschen eigentlich gedacht hat, nämlich so wie sich der „Leib Christi unterwegs zu ihrer Erneuerung“ (ebd., 137) in der Kirche darstellt – ein Weg, den die Gläubigen gehen, in dem sie die großen Taten Gottes verherrlichen (J. Alexander Sider, To See History Doxologically, 2011). Im Vollzug der „Praktiken“, in denen Gott gleichsam sakramental handelt („menschliches Handeln, in dem Gott handelt“, 127), setzt sich die Wahrheit durch, die in Jesus Christus offenbart ist, und wird zur Wirklichkeit des Heils in dieser Welt.
Der Begriff „Praktiken“ könnte mit postmodernem Denken in die mennonitischen Überlegungen zur Theologie und Ethik eingedrungen sein (→Postmoderne). So hat beispielsweise der französische Philosoph Michel Foucault in seiner berühmten Abhandlung über Die Ordnung des Diskurses davon gesprochen, dass „Praktiken“ die Mittel sind, die Wahrheit und Wirklichkeit in der Gesellschaft mit Hilfe eines geordneten Diskurses entstehen lassen, in einem zähen Ringen um die Macht zu bestimmen, was ist und was gelten soll (Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, orig. 1972). Dieses Ordnungskonzept ist von Yoder nicht übernommen worden, Machtbeziehungen spielen bei ihm eine andere Rolle und transportieren andere Inhalte als bei Foucault. Formal jedoch ist die Funktion, die „Praktiken“ zugewiesen erhalten, ähnlich: in ihnen entsteht neue Wirklichkeit: bei Yoder die alternative oder neue Gesellschaft, die der Vorschein des Reiches Gottes in dieser Welt ist. Das Verhältnis Yoders und anderer mennonitischer Theologen zur Postmoderne ist gelegentlich angesprochen worden, müsste aber noch weiter durchdacht werden (Peter Dula und Chris K. Huebner (Hg.), The New Yoder, XIII, 90–105).
Yoder hat die Kirche so rigoros aus der gefallenen Schöpfung herausgelöst, dass sie nicht nur Träger der Verkündigung des Evangeliums ist, sondern zum Evangelium selbst wird, an dem die Welt die Verheißung ihres eigenen Heils abzulesen im Stande sein müsste. Diese Engführung von Evangelium und →Ekklesiologie ist jedoch nicht unumstritten. Sie wird in der ökumenischen Bewegung kritisiert, ihr wird aber auch teilweise unter den Mennoniten zurückhaltend oder kritisch begegnet (vgl. Paul Martens, The Heterodox Yoder, 2012; Hans-Jürgen Goertz, Radikaler Pazifismus im Gespräch, 2013).
Bibliografie (Auswahl)
Peter Dula und Chris K. Huebner (Hg.), The New Yoder, Eugene, OR, 2010. - Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M. 1991 (erste deutsche Ausgabe: München 1974); franz. Originalausgabe: L'ordre du discours, Paris 1972. - Hans-Jürgen Goertz, Das Friedenszeugnis im Gespräch. Der formative Grundakkord der Theologie John Howard Yoders. Gespräche der Täufer, Einheit der Kirchen, Theologie des Friedens. Göttingen 2013. - Paul Martens, The Heterodox Yoder. Eugene, OR, 2012. - J. Alexander Sider, To See History Doxologically. History and Holiness in John Howard Yoder's Ecclesiology. Grand Rapids, MI, und Cambrigde 2011. - Glenn Stassen (Hg.), Just Peacemaking: Ten Practices for Abolishing War, Cleveland, Ohio, 1998. - John Howard Yoder, Die Politik des Leibes Christi. Als Gemeinde zeichenhaft leben. Schwarzenfeld 2011; engl. Originalausgabe: Body Politics – Five Practices of the Christian Community Before the Watching World, Scottdale, PA, 2001.
Hans-Jürgen Goertz