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Bucer, Martin

geb. am 11. November 1491 in Schlettstadt (Sélestat), Elsass, gest. am 28. Februar oder 1. März 1551 in Cambridge, England; Straßburger Reformator.

Martin Butzer (später latinisierte er seinen Namen zu „Bucerus“, in der Forschung setzte sich im 20. Jahrhundert die Schreibweise „Bucer“ durch) entstammte einfachen Handwerkerverhältnissen. Der Eintritt als Fünfzehnjähriger in das Dominikanerkloster seiner Heimatstadt bedeutete den Anfang einer erfolgreichen akademischen Laufbahn innerhalb des Predigerordens, dem Studienaufenthalte in Heidelberg (1512–1516 und 1517–1521) und Mainz (1516–1517; Priesterweihe dort 1516) folgten. Geistig geprägt wurde Bucer durch die Systematik Thomas von Aquins und den biblischen Humanismus des Desiderius →Erasmus. Die entscheidende Wende in seinem Leben vollzog sich aber, als er Martin →Luther anlässlich der Heidelberger Disputation am 26. April 1518 persönlich begegnete. Endgültig für die evangelische Bewegung gewonnen, kämpfte Bucer für seine 1521 schließlich erreichte Entlassung aus dem Dominikanerorden. Danach diente er vorübergehend dem Pfalzgrafen Friedrich II., er heiratete eine ehemalige Nonne, Elisabeth Silbereisen, suchte Zuflucht beim Reichsritter Franz von Sickingen, nahm eine Hilfspredigerstelle in Weißenburg (Wissembourg) an und wurde schließlich vom Speyerer Bischof als ketzerischer und verheirateter Priester exkommuniziert. Nach diesen unruhigen Wanderjahren kam Bucer im Mai 1523 als Flüchtling in →Straßburg an. Es gelang ihm, sich im Kreise der städtischen Prediger rasch zum führenden Kirchenmann emporzuarbeiten und die elsässische Reichsstadt zum Mittelpunkt seines Wirkens für die nächsten 26 Jahre zu machen. Hier versuchte er, seine Vision vom Aufbau des Reiches Christi – eine umfassende Erneuerung der gesamten Stadtgemeinschaft unter der Leitung des Heiligen Geistes und nach Maßgabe des „göttlichen Rechts“ (das für Bucer primär die Bibel, aber auch das Römische Recht Justinians und sogar das frühe kirchliche Recht umfasste) – zu verwirklichen.

Die stark ethische Komponente seiner Theologie (Gott „als einen Vater erkennen und anrufen“ bedeutet, „daß wir alle Menschen als unsere Brüder auch erkennen und ihnen dienen“) machte ihn sehr sensibel für die täuferische Kritik an den ausbleibenden sittlichen Früchten der volkskirchlich angelegten Reformationsvorhaben. Deshalb suchte er das Gespräch und die Auseinandersetzung mit den unzähligen Täufern, die vor allem ab 1526 Zuflucht in Straßburg suchten. Mit ihnen teilte er durchaus einen ethischen Rigorismus, denn er machte die Disziplin zu einem dritten Kennzeichen der Kirche neben Predigt und Sakramenten („Nu mag kein kirch sein, sie muß ein ban haben“ erklärte er). Kein Verständnis brachte er aber für die Neigung der Täufer zum Separatismus sowie für ihre skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber der weltlichen Obrigkeit auf. Für den Straßburger Reformator war es selbstverständlich, das gesamte Gemeinwesen zum Ziel seiner reformatorischer Bemühungen zu machen: Die Kirche hatte die ganze Stadt zu umfassen. Ebenso natürlich für ihn war es, die tatkräftige Mitarbeit des weltlichen Magistrats in der Sorge um den rechten Gottesdienst, der Durchsetzung einer verbindlichen Zuchtordnung und überhaupt in den Aufbau des Reiches Christi einzufordern. Der christliche weltliche Fürst war für Bucer das bevorzugte Ausführungsorgan Gottes für die Erneuerung von Kirche und Gesellschaft.

Straßburgs günstige geographische Lage und seine für die damalige Zeit relativ tolerante Haltung gegenüber Glaubensdissidenten förderten einen kontinuierlichen Zuzug von Täufern unterschiedlichster Glaubensrichtung nach Straßburg, von denen manche bei städtischen Prädikanten wie Wolfgang →Capito und Matthäus Zell sogar vorübergehend Unterschlupf finden konnten. Herausgefordert durch ihre Gründung selbstständiger Gemeinden, suchte Bucer das Gespräch mit diesen Täufern, nicht ohne gleichzeitig den Rat dazu zu bewegen, ihre Führer zu inhaftieren und aus der Stadt zu verdrängen. Am 22. Dezember 1526 disputierte Bucer öffentlich mit Hans →Denck in der ehemaligen Dominikanerkirche, ohne diesen eines abweichenden Bekenntnisses überführen zu können. Dennoch gelang es ihm, Denck drei Tage später ausweisen zu lassen. Etwa zu derselben Zeit muss sich Michael →Sattler auch in Straßburg aufgehalten und intensive Gespräche mit Bucer und Capito geführt haben, denn ein wohl Ende 1526 oder Anfang 1527 verfasster Abschiedsbrief Sattlers an die Straßburger Reformatoren (BCor 2, 193–195) zeugt von einem erstaunlich freundlichen Verhältnis zwischen diesen und jenem. Bucer schätzte etwa Sattlers Verständnis des Sühneopfers Christi ausdrücklich und nannte ihn „eyn lieber frundt Gots“. Es blieben freilich unüberbrückbare Unterschiede: Der strenge Biblizismus Sattlers stieß frontal mit einem gewissen Pragmatismus Bucers zusammen, der alle Gebote unter dem Gesichtspunkt der Nächstenliebe relativierte. Nach Ansicht Bucers verpflichtete die Nächstenliebe den Christen, ein frommes Gemeinwesen gegen Angreifer zu schützen. Sattlers Forderung der Bekenntnistaufe und seine dualistische Scheidung zwischen Christengemeinde und Welt war mit Bucers Ekklesiologie unvereinbar. Wie der Straßburger Reformator in seiner Auseinandersetzung mit Pilgram →Marpeck Ende 1531 und Anfang 1532 in besonderer Ausführlichkeit betonen sollte, könne der Mensch sich nicht anmaßen, die Gemeinschaft der von Gott Auserwählten mittels äußerer Zeichen wie der Taufe präzise einzugrenzen. Für Bucer blieb die Kirche stets eine aufgrund der Kindertaufe tendenziell die ganze Gesellschaft umfassende, unvollendete Gemeinschaft, die der erhaltenden Zuwendung Gottes bedurfte, immer der Besserung fähig sei und deshalb auf eine von der Obrigkeit unterstützte äußere Kirchenzucht angewiesen war. Bucer war gegenüber den Täufern bereit einzugestehen, dass die weltliche Obrigkeit nicht in der Lage sei, allein mit äußeren Mitteln Frömmigkeit zu schaffen. Nur der Geist Gottes schaffe das Heil. Für Bucer blieb die Obrigkeit jedoch ein gottgewolltes und somit unentbehrliches Instrument für die Förderung, Beaufsichtigung und Verteidigung der christlichen Lehre und Sittlichkeit. Bucer zögerte nicht, seinen Einfluss über den Straßburger Rat zu nutzen, um Marpeck Anfang 1532 auszuweisen oder mittels der Synode im Juni 1533 den inhaftierten apokalyptischen Täufer Melchior →Hoffman endgültig als Ketzer verurteilen zu lassen.

Viel mehr als an ihrem abweichenden Tauf- und Obrigkeitsverständnis störte sich Bucer am Separatismus der Täufer. Diesen legte er als mangelnde Liebe aus: „Wöllen fromer syn denn andere, vnd der liebe doch, welche alleyn wie Gott selb allßo alle frombkeyt ist, so groblich verfehlen“ (BCor 6, 125). Unfreiwillige Bewunderung klingt in seiner Klage über Pilgram Marpeck, dem er „eyns feyns, vnstrefflichen thuns“ bescheinigte, durch: „Er hat fil verlossen, sich selb kann er aber nicht verlossen. Die gröbern laster hatt er (…) feyn abgestellet, die geystlichen thun ym aber desto würsch“ (BCor 6, 63).

Die Herausforderung durch die Täufer brachte Bucer dazu, in den 1530er Jahren die äußeren Zeichen der Kirche zunehmend aufzuwerten sowie Wege zu suchen, den Mitgliedern der Volkskirche ein verbindliches, öffentliches Bekenntnis abzuverlangen. In der Kasseler Kirchenordnung von 1538 führte er – zeitgleich mit seinen teilweise mit Übertritten gekrönten Verhandlungen mit inhaftierten Täufern in Marburg – erstmals die Konfirmation ein. Gegen Ende seines Straßburger Wirkens deutete er sogar die militärische Niederlage des Schmalkaldischen Bundes als Strafe Gottes für die ausbleibenden ethischen Früchte der Reformation. Als Reaktion darauf regte er die Gründung von „christlichen Gemeinschaften“ – verbindliche Keimzellen von entschiedenen Christen innerhalb der einzelnen Pfarrbezirke Straßburgs – an. Dieses Vorhaben scheiterte aber an der Opposition des Rates und an der Tatsache, dass Bucer Straßburg 1549 aus politischen Gründen verlassen musste. Weil er auf der Ablehnung des Interims beharrte und somit bereit war, das politische Überleben Straßburgs aufs Spiel zu setzen, warfen ihm seine Gegner im Stadtrat vor, ähnlich wie zuvor die Münsteraner Täufer die Stadt durch theologische Verantwortungslosigkeit in die politische Katastrophe zu führen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er, von Krankheit gezeichnet, als Exulant in Cambridge (England).

Quellen

Bibliografie: Martin Bucer (1491–1551). Bibliografie erstellt von Holger Pils, Stephan Ruderer und Petra Schaffrodt unter Mitarbeit von Zita Faragó-Günther. Mit Unterstützung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hg. v. Gottfried Seebaß, Gütersloh 2005.

Opera Omnia, Series I: Deutsche Schriften (BDS), bisher Bde. 1–12 und 17, Gütersloh 1960–2007. - Series II: Opera Latina (BOL), bisher Bde. 1–5, Leiden 1982–2000, Bd. 15, Gütersloh/Paris 1955. - Series III: Correspondance de Martin Bucer/Briefwechsel (BCor), bisher Bde. 1–7, Leiden 1979–2008. - Speziell mit dem Täufertum setzt sich Bucer in folgenden Schriften auseinander: Getrewe Warnung uber die Artickel, so Jacob Kautz kürtzlich hat lassen außgohn (Juli 1527), in: BDS 2, 225–258. - Handlung gegen Melchior Hoffman (Juni/Juli 1533), in: BDS 5, 43–107. - Quid de baptismate infantium sentiendum (Dezember 1533), in: Schriften von evangelischer Seite gegen die Täufer, hg. v. Robert Stupperich, Münster 1983, 8–35; Neuedition in: BDS 14. - Stellungnahmen Bucers zum Täufertum finden sich außerdem verstreut in seinem gesamten Werk, etwa in dem noch unedierten Synoptikerkommentar (Ausgaben von 1527, 1530 und 1536). Protokolle seiner Verhöre inhaftierter Täufer sind in den Quellen zur Geschichte der Täufer, Bde. 7, 8, 15 und 16 (Elsaß I-IV) sowie in den Urkundlichen Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 4: Wiedertäuferakten 1527–1626 zu finden. Alle Stellungnahmen Bucers zum Täufertum werden in Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 14: Schriften zu Täufertum und Spritualismus 1531–1546, Gütersloh 2011 aufgeführt.

Literatur

Stephen E. Buckwalter, Die Stellung der Straßburger Reformatoren zu den Täufern, in: Mennonitische Geschichtsblätter 1995, 52–84. - Amy Nelson Burnett, Martin Bucer and the Anabaptist Context of Evangelical Confirmation, in: Mennonite Quarterly Review, 68, 1994, 95–122. - Klaus Deppermann, Melchior Hoffman. Soziale Unruhen und apokalyptische Visionen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1979, 139–193. - Henry G. Krahn, Martin Bucer's Strategy against Sectarian Dissent in Strasbourg, in: Mennonite Quarterly Review, 50, 1976, 163–180. - Charles B. Mitchell, Martin Bucer and Sectarian Dissent. A Confrontation of the Magisterial Reformation with Anabaptists and Spiritualists. Diss. phil. masch., Yale University 1960. - Christian Neff, Art. Butzer, Martin, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. 1, 307–313. - John S. Oyer, Bucer opposes the Anabaptists, in: Mennonite Quarterly Review, 68, 1994, 24–50. - Bernhard Roussel, Martin Bucer tourmenté par les „Spiritualistes“: l'éxegèse polémique de l'épitre aux Ephésiens (1527), in: Anabaptistes et dissidents au XVIe siècle. Anabaptism and Radical Reformation. Täufertum und radikale Reformation im 16. Jahrhundert. Actes du Colloque international d'histoire anabaptiste du XVIe siècle tenu à l'occasion de la XIe Conférence Mennonite mondiale à Strasbourg, juillet 1984, publ. par Jean-Georges Rott et Simon Verheus, Baden-Baden 1987 (Bibliotheca Dissidentium 3), 413–447.

Stephen E. Buckwalter

 
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