Reimer, Klaas

geb. am 16. Oktober 1770 in Petershagen (Gr. Werder), Königlich Preußen, Polen, gest. am 28. Dezember 1837 auf Reisen (Petershagen), Russland; Gründungsältester der Kleinen Gemeinde in Russland.

Klaas Reimer war der Gründungsälteste der →Kleinen Gemeinde, die 1812 in Russland entstand. Aufgewachsen war er in dem ländlichen Teil der Flämischen Gemeinde Danzigs und wurde im Alter von zwanzig Jahren getauft. Er entstammte einer gut situierten Bauernfamilie, hatte aber nur eine mäßige Schulbildung erhalten. Im Alter von 28 Jahren zog er 1798 nach Neunhuben in die unmittelbare Nähe Danzigs und heiratete Maria Epp, die Tochter des einflussreichen flämischen Ältesten Peter Epp. Das junge Paar verbrachte seine ersten gemeinsamen Jahre auf einem Bauernhof, den es von einem Onkel der Ehefrau gekauft hatte. 1801 wurde die Tochter Aganetha geboren.

Eine Familiengeschichte vermerkt Reimers „Integrität und Aufrichtigkeit“. Er missbilligte das Tabakrauchen, hielt sich vom Kartenspiel fern und befolgte die Ratschläge der Älteren. 1801 wurde Reimer zum Prediger der ländlichen Danziger Mennonitengemeinde gewählt, ein Dienst, den er nur zögernd annahm, da er sich für eine solche Berufung unwürdig fühlte. Als Prediger wandte er sich dem biblischen Studium zu, ebenso las er die Schriften von Menno →Simons, Dirk →Philips, Pieter Pietersz und anderer Täufer. Als fundamentale Einsicht des Christentums betrachtete er die Lehre von der Wehrlosigkeit und das Verständnis einer leidenden, disziplinierenden Gemeinde. Er war über den moralischen Zustand der westpreußischen mennonitischen Gemeinden bekümmert, über auffällige Kleidung, übertriebene Architektur, sexuelle Freizügigkeit, frivolen Spott und besonders innergemeindliche Gewalt.

1804 zog Reimer mit seiner Familie im Zuge der großen mennonitischen Auswanderung nach Russland (Ukraine). Er war der festen Überzeugung, dass eine reinere, erneuerte Kirche am Rande Südrusslands errichtet werden könne. Ein Jahr lang lebte die Familie in der Kolonie Chortitza, wo Reimer mit half, Land für die Molotschnaja-Kolonie zu erwerben. Im darauffolgenden Jahr siedelte sich die Familie in Petershagen in der Molotschnaja an. Das Leben gestaltete sich für Reimer hier schwer. Zum einen starb seine Frau Maria 1806 und im folgenden Jahr heiratete er mit 36 Jahren die neunzehnjährige Helena Friesen. Aus dieser Ehe gingen zehn Kinder hervor.

Auch das Gemeindeleben war schwierig, da Reimer auf viele moralischen Probleme in Russland stieß, wie er sie schon in Preußen vorgefunden hatte. Was er noch mehr bedauerte, war, dass die Kirche in der halbautonomen mennonitischen Kolonie die Disziplinargewalt dem weltlichen „Gebietsamt“ übertragen hatte und die Siedler aus diesem Grund mit körperlichen Strafen und sogar mit Gefängnis rechnen mussten. Reimers rigoroser Moralismus und gewaltfreier Idealismus schienen von dem jüngeren, einst von Reimer ordinierten Ältesten, dem Schneider Jakob Enns, bekämpft worden zu sein.

Reimer wurde besonders auf den Plan gerufen, als die Führung der mennonitischen Kirche der Forderung der Regierung stillschweigend nachkam, Geldmittel bereitzustellen, die für den Kampf gegen das Vordringen der napoleonischen Armee in Russland bestimmt waren. 1812 trafen sich Reimer und Cornelius Janzen, sein Kollege im Predigerdienst, in Münsterberg. Sie studierten die Bibel und die führenden Täufer und feierten ihr eigenes Abendmahl. 1814 gründete diese kleine Gruppe nach gründlicher Gewissensprüfung und mancherlei Zittern und Zagen eine separate Kirche. Reimer schrieb später, dass sich der Älteste Jakob Enns dieser Absonderung widersetzte und die zivilen Behörden einschaltete, die ihnen mit körperlicher Züchtigung und Verbannung nach Sibirien drohten.

1815 half die fortschrittlichere Führung der friesischen Gemeinden der neuen Gemeinde, einen Ältesten zu wählen. Das Los fiel auf Klaas Reimer. Die junge Kirche, die von anderen Mennoniten spöttischerweise die →Kleine Gemeinde genannt wurde, nahm diese Benennung als Zeichen der wahren, leidensbereiten Nachfolge an. Lange Zeit wurde die Taufe der Kleinen Gemeinde von den anderen mennonitischen Gemeinden nicht anerkannt, und ihren Predigern wurde von den zivilen Behörden der Kolonie die Anerkennung verweigert. Erst dreißig Jahre nach ihrer Gründung wurde die Kleine Gemeinde mit Unterstützung durch den einflussreichen Landreformer Johann →Cornies als eine offizielle kirchliche Körperschaft anerkannt.

In den Jahren, die auf die Gründung der Kleinen Gemeinde folgten, musste Reimer auf bedeutsame Herausforderungen antworten. Sein Bruder im Predigtdienst verließ die Kleine Gemeinde schon nach wenigen Jahren, dann fegte eine radikale Bewegung „falscher Demut“ durch die Gemeinde, und gleichzeitig wurde die Gemeinde von angeblich modernistischen Entwicklungen herausgefordert, zum Beispiel dem handgetriebenen Fahrrad, das Reimers Sohn Abraham erfunden hatte. Noch führte die Kirche Neuerungen wie das Fußwaschen ein, förderte eine einfache Lebensweise, praktizierte eine fast mystische Frömmigkeit und erwarb sich den Ruf, gewaltlos zu sein. Nach und nach gewannen die Gemeindeglieder den Respekt der Kolonieleitung als vorbildliche Bauern und Beteiligte am fortschrittlichen Schulsystem der Molotschnaja.

1837 erkrankte Reimer plötzlich auf einer Dienstreise und starb im Alter von 67 Jahren. Fünf Kinder aus zweiter Ehe überlebten die Kindheit und wanderten in den 1870er Jahren nach Nordamerika aus, vier Kinder siedelten in Jansen, Nebraska (USA), und ein Kind in Blumenort, Manitoba (Kanada). Reimers Vermächtnis hat viele Diskussionen ausgelöst. Eine besonders einflussreiche Ansicht, die 1911 von P. M. Friesen, dem Historiker der Mennoniten-Brüdergemeinde vorgetragen wurde, legte die Schlussfolgerung nahe, Reimer sei eine reaktionäre und engstirnige Person gewesen, die sich nicht im Gleichschritt mit modernisierenden Entwicklungen in Russland befand. Mehr Sympathie wurde ihm von seinen Nachkommen in der neu gestalteten Evangelical Mennonite Conference entgegengebracht. Der Historiker Peter J. B. Reimer begrüßte seinen Urgroßvater Klaas Reimer in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts als jemanden, „der standhaft an seinem Ziel eines nonkonformen Rests glaubenstreuer Nachfolger des Herrn Jesus Christus festhielt“. Ein noch sympathischeres Bild von Klaas Reimer zeichnete der Historiker Delbert →Plett, der selbst aus der Kleinen Gemeinde stammte. In dem Buch über The Golden Years: The Kleine Gemeinde in Russia, 1812–1849 (1985), insgesamt in den weiteren sechs gründlich recherchierten und gehaltvollen Bänden, vertrat Plett die Meinung, Reimer und die Kleine Gemeinde repräsentierten eine Erneuerungsbewegung, die die Kirche zu den Werten der Täufer und auf den Weg Jesu Christi zurückgerufen habe.

Die Kleine Gemeinde lebt auch heute noch in einer Reihe von Kirchen fort und trägt weiterhin ihren Namen in Kanada, Mexiko und Belize. Gruppen, die direkt von der Kleinen Gemeinde abstammen, haben sich auch in der Evangelical Mennonite Conference zusammengefunden, die sich in Manitoba (Kanada) und in der Ione Emmanuel Mennonite Church, Meade, Kansas (USA) konzentrieren.

Autobiographie

Ein kleiner Aufsatz, 1836, übers. von Delbert Plett, in: Delbert Plett (Hg.), Leaders of the Mennonite Kleine Gemeinde in Russia, 1812–1874, Steinbach, Manitoba, 1993, 121–147. - Das Original, in: Archiv der Evangelical Mennonite Church, Steinbach, Manitoba, Kanada.

Literatur

Delbert Plett, The Golden Years: Mennonite Kleine Gemeinde in Russia, 1812–1849, Steinbach, Manitoba 1985, 145–213. - Ders. (Hg.), Leaders of the Mennonite Kleine Gemeinde in Russia, 1812–1874, Steinbach, Manitoba, 1993, 113–222 (Insgesamt sind von 1982 bis 2000 mit den beiden oben aufgeführten Bänden sechs Bände erschienen). - Al Reimer, Klaas Reimer: Rebel Conservative, Radical Traditionalist, in: Journal of Mennonite Studies 3, 1985, 108–117. - David P. Reimer, Die Herkunft und Geschichte unseres Reimer Geschlechts, in: David P. Reimer, John C. Reimer und Peter J. B. Reimer (Hg.), Familienregister der Nachkommen von Klaas und Helena Reimer mit Biographien der ersten drei Generationen, Winnipeg, Manitoba, 1958, 7–13. - Peter J. B. Reimer, Klaas Reimer und seine Zeit, in: Familienregister der Nachkommen von Klaas und Helena Reimer mit Biographien der ersten drei Generationen, 21–24.

Royden Loewen

 
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