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Harder, Johannes (Hans)

geb. am 28. 1. 1903 in Neuhoffnung-Alexandertal bei Ul´janovsk/Wolga, Russland, gest. am 7. 3. 1987 in Gießen (Hessen), Deutschland; Schriftsteller, Hochschullehrer, Prediger und Ältester der Mennonitengemeinde Frankfurt/M.

Johannes Harder wuchs in einer mennonitischen Familie auf, die 1878 aus →Westpreußen an die Wolga gezogen war und sich dort gemeinsam mit Glaubensgenossen eine neue Existenz aufbaute (→Russland). Sein Vater, Bernhard Harder, erlernte das Schmiedehandwerk in den mennonitischen Siedlungen Südrusslands (Halbstadt) und baute seine Schmiede in den Wolgasiedlungen bald zu einem gut gehenden Importgeschäft für Landwirtschaftsmaschinen aus. Während des Ersten Weltkriegs wurde seine Familie nach Orenburg am Ural verbannt und wanderte 1918 nach Königsberg aus, wo der Sohn das Studium der Wirtschafts-, Literaturwissenschaften und Philosophie an der Universität aufnahm. In den mittleren Jahren der Weimarer Republik schloss er sich unter dem Einfluss der Theologie Christoph Blumhardts, wie sie ihm durch ein Buch des religiös-sozialen Theologen Leonhard Ragaz erschlossen worden war, für eine Weile zunächst der Lebensreformgemeinschaft der „Neu-Sonnefelder Jugend“ an, die in der Breitewitzer Waldmühle bei Gräfenhainichen (Thüringen) eine vorwiegend aus jungen Baptisten bestehende Kommune gegründet hatte. Dann wandte er sich für einige Zeit dem Religiösen Sozialismus zu, wie er von Eberhard Arnold auf dem Rhönbruderhof in der Form einer pazifistischen Gütergemeinschaft errichtet worden war. Auf der Suche nach einer eigenen beruflichen Existenz zog Harder 1928 schließlich zu seinen Eltern in den Harz und betrieb seit 1928 in Wernigerode einen kleinen Verlag, in dem mit mäßigem Erfolg religiös-soziale und religionsphilosophische Literatur russischer Emigranten veröffentlicht wurde. Inzwischen hatte er sich vom Mennonitentum, das seine Kindheit tief geprägt hatte, entfernt, und er wandte sich unter dem sich vertiefenden Eindruck der Schriften von Leonhard Ragaz und Christoph Blumhardt, schließlich auch der Auseinandersetzungen um die Dialektische Theologie Karl →Barths der Bekennenden Kirche zu. 1932 zog er mit seiner Familie nach Hamburg und arbeitete in der Großstadtmission Hamburg-Altona mit, die sein Vater leitete. Hier eröffnete sich ihm ein weiter Erfahrungsraum sozialen Elends und parteipolitischer Auseinandersetzungen in der Großstadt auf anschauliche Weise. Nachdem die Stadtmission ihn aus finanziellen Gründen entlassen musste, gelang es ihm, zwischen 1937 und 1941 mit Aufgaben im „Rüstdienst der Bekennenden Kirche“ des Rheinlandes betraut zu werden. In dieser Zeit war er unentwegt auf Reisen, um den inneren Zusammenhalt der Bekennenden Kirche zu stärken, bis er zum Wehrdienst eingezogen wurde und bald im Auftrag des „Volksbundes für das Deutschtum im Ausland“ als Dolmetscher und kultureller Mitarbeiter in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten Russlands (Odessa) tätig war. Vom Übergang dieses Volksbundes in Heinrich Himmlers „Volksdeutsche Mittelstelle“ (SS) erfuhr er erst nach dem Vollzug dieses Übergangs, und trotz einiger Versuche gelang es ihm nicht, sich der Arbeit an dieser Stelle zu entziehen (Aufbruch ohne Ende, 132 f.). Ab 1942 (oder 1943) wurde er als Untersturmführer der SS geführt; in diesem Jahr erklärte er auch, kein Mitglied in der NSDAP zu sein (Berlin Doc. Center). Von Karl Götz, dem nationalsozialistischen Vertrauensmann Benjamin H. →Unruhs, wurden sowohl Johannes Harder als auch dessen Vater Bernhard Harder als nicht vertrauenswürdig angesehen, um für die geplante politische und kulturelle Arbeit unter den Mennoniten der Ukraine eingesetzt werden zu können.

In den frühen dreißiger Jahren begann Harder, Romane zu schreiben: In Wologdas weißen Wäldern (1934) schilderte er unter dem Pseudonym Alexander Schwarz die Geschichte einiger russlanddeutscher Mennonitenfamilien, die im Zuge der landwirtschaftlichen Kollektivierung unter Stalin zur Zwangsarbeit ans Weiße Meer deportiert wurden; im Dorf an der Wolga. Ein deutsches Leben in Russland (1937) erzählte er von der Zerstörung einer mennonitischen Kolonie unter der Herrschaft der Sowjets und im Deutschen Doktor von Moskau (1940) vom selbstlosen Einsatz eines deutschen Arztes (Dr. Josef Haas aus Münstereifel) für das unter napoleonischer Besatzung leidende russische Volk. Über das Kriegsende hinaus hat er dann nur noch einige Erzählungen geschrieben. Seine belletristischen Arbeiten zeugen von einer unbändigen Freude am Erzählen und gewähren kenntnisreiche Einblicke in das Leben der russlanddeutschen Mennoniten und der russischen Landbevölkerung im Übergang vom Zarenreich zum sowjetischen Staat. Mit „deutschtümelnden“ Anspielungen im Titel tarnte er gelegentlich seine Absicht, untergründig dem Hassbild entgegenzuwirken, das die nationalsozialistische Propaganda vom russischen Menschen zeichnete.

Das Kriegsende erlebte Harder bei seiner Familie in Wernigerode, die Wirren und Beschwernisse des Neuanfangs in Westfalen und im Rheinland. 1946 wurde er auf Vorschlag des Religionspädagogen Oskar Hammelsbeck zunächst mit einem Lehrauftrag als Dozent und ab 1948 mit einer Professur für Sozialwissenschaften an der Pädagogischen Akademie (später Hochschule) in Wuppertal betraut. Hier wirkte er bis zu seiner Emeritierung 1968 und erhielt 1979 für seine besondere Mitarbeit am „Wuppertaler Modell“ zur Straffälligenpädagogik und Delinquenzprophylaxe ebenso wie für seine publizistischen Arbeiten, besonders die dreibändige Ausgabe der Ansprachen, Predigten, Reden und Briefe Christoph Blumhardts (1978), das Bundesverdienstkreuz. In diese Zeit fiel auch sein besonderes Bemühen um die russische Literatur und die deutsch-polnischen Beziehungen. Es entstanden Übersetzungen von literarischen Arbeiten Nicolai Leskóvs, Leo Tolstójs und Fjódor Dostojewskis, ebenso Abhandlungen über diese Schriftsteller, und er arbeitete im Vorstand der deutsch-polnischen Gesellschaft (Düsseldorf) mit. Immer wieder beschwor er die Menschlichkeit und die Religiosität des russischen Menschen: Der Mensch im russischen Roman (1961) und Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche (1961). In Vorträgen und Aufsätzen setzte er sich auch für die Friedensbewegung in der Bundesrepublik ein und gehörte zum engen Kreis um seine Kollegin Renate Riemeck, die der Deutschen Friedensunion vorstand. Er beteiligte sich an den sogenannten Ostermärschen, protestierte gegen die Notstandsgesetzgebung und den Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung von Raketen mit atomaren Sprengköpfen in Deutschland. Als er es übernahm, die Trauerpredigt für die erschossene Terroristin Elisabeth von Dyck (aus der Mennonitengemeinde Enkenbach/Pfalz) zu halten, stellte er seine Bereitschaft unter Beweis, mit der politisch wachsamen, aufbegehrenden, aber auch strauchelnden Jugend um 1968 ein kritisch-solidarisches Gespräch zu suchen.

Theologisch bewegte er sich im Kreise der Evangelischen Bruderschaften, die aus der Bekennenden Kirche entstanden waren, und hielt engen Kontakt zu Martin Niemöller, Helmut Gollwitzer, Gustav Heinemann und besonders zu Hans Ehrenberg, den er einen „Wegweiser an meiner Lebensstraße“ nannte. Eine langjährige politische Freundschaft verband ihn mit dem Wuppertaler Johannes Rau, dem späteren Bundespräsidenten. Im Ruhestand, den er in Hohenzell bei Schlüchtern verbrachte, suchte er wieder Kontakt zu den Mennoniten, denen er sich in der Zeit des Dritten Reichs entfremdet hatte. Er hielt Vorträge auf Jugend- und Studentenfreizeiten, predigte in zahlreichen Gemeinden und schrieb in mennonitischen Zeitschriften. Schließlich wurde er zum Ältesten der Mennonitengemeinde Frankfurt am Main gewählt. Er brachte mit seiner kirchenkritisch eingestellten, vor politischen Konsequenzen nicht zurückschreckenden Laientheologie, mit seiner impulsiven, alle Gemächlichkeit und Scheinheiligkeit herausfordernden, geradezu prophetisch-wortgewaltigen Predigt frischen Wind in die Gemeinden. Was ihn mit seinem konfessionellen Ursprung im Täufertum des 16. Jahrhunderts verband, waren die Respektlosigkeit gegenüber autoritären Machtansprüchen, die unerbittliche Forderung, die Lebensverhältnisse unter dem Eindruck göttlicher Liebe radikal zu verändern und sich kompromisslos für den Frieden in der Welt einzusetzen. Er stieß zwar oft auf Befremden, gelegentlich sogar auf Ablehnung, doch immer wieder nahm er seine Zuhörer auch mit seiner überaus humorvollen und geistesgegenwärtigen Art für seine eigenwillige ökumenische Existenz ein. Seine Anekdoten und Witze, die er zu erzählen wusste, hat er als einen Beitrag zum Thema Humor in der Kirche verstanden und in einem katholischen Verlag veröffentlicht: Und der Himmel lacht mit. Heiteres von Theologen und Theolunken (Herder Verlag 1982). Seine ebenso kurzweilig-anekdotischen wie religiös aufrüttelnden Memoiren wurden unter dem für ihn typischen Titel Aufbruch ohne Ende mit einem Vorwort von Johannes Rau 1992 posthum veröffentlicht.

Werke (Auswahl)

In Wologdas weißen Wäldern, Altona/Elbe 1934. - Das Dorf an der Wolga. Ein deutsches Leben in Russland, Stuttgart 1937. - Die Hungerbrüder, Heilbronn 1938. - Das sibirische Tor. Vier Jahre Orenburger Zivilgefangenschaft (1914 – 1918), Stuttgart 1938. - Die vier Leiden des Adam Kling, Berlin 1939. - Der deutsche Doktor von Moskau, Stuttgart 1940. - Klim – ein russisches Bauernleben, Berlin 1940. - Christoph Blumhardt – eine Botschaft an die Gegenwart, Gladbeck 1947. - Der Osten als Frage an den Westen. Eine Besinnung, Lemgo i. Lippe 1952. - Herausgeber: Kraft und Innigkeit. Hans Ehrenberg als Gabe der Freundschaft im 70. Lebensjahr überreicht, Heidelberg 1953. - Zwischen Atheismus und Religion. Eine Deutung Dostojewskis, Wuppertal-Barmen 1956. - Kampf um den Menschen. Eine Deutung Nikolai Leskovs, Wuppertal-Barmen 1959. - Die Nacht am Jacotiner See, Bielefeld 1960. - Zwischen Nihilismus und Nachfolge. Eine Deutung Leo Tolstois, Wuppertal-Barmen 1960. - Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche, München 1961. - Der Mensch im russischen Roman, Wuppertal-Barmen 1961. - Russische Frauen. Erzählungen aus dem alten und neuen Rußland (herausgegeben und übersetzt), Düsseldorf-Köln 1964. - Herausgeber: Festschrift zur Feier des 800-jährigen Jubiläums der Gemeinde Hohenzell, Schlüchtern-Hohenzell 1967. - Gegen den Strom, Aufsätze zur mennonitischen Existenz heute, hg. von Hans-Jürgen Goertz, Hamburg 1978. - Herausgeber: Christoph Blumhardt – Ansprachen, Predigten, Reden, Briefe: 1865 – 1917, Neukirchen-Vluyn 1978. - Herausgeber: Und der Himmel lacht mit: Heiteres von Theologen und Theolunken, Freiburg 1982. - Herausgeber: Lebensweisheit des russischen Volkes, Feiburg 1985. - Jung-Stilling-Studien, Siegen 1984/87 (gemeinsam mit E. Mertens). - Aufbruch ohne Ende, hg. von Gudrun Harder und Hermann Horn, Wuppertal-Zürich 1992.

Literatur

Imanuel Baumann, Notizen zu Hans (Johannes) Harder im Nationalsozialismus, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2017, 98–110. - Cornelius Krahn, Johannes Harder. A Mennonite Novelist, in: Mennonite Life 8, 1953, 78 – 79. - Hermann Horn (Hg.), Entscheidung und Solidarität. Festschrift für Johannes Harder. Wuppertal 1973 (mit Bibliografie, bis 1972). - Cornelius Krahn, Recognition at Seventy: Johannes Harder, in: Mennonite Life 28, 1973, 54. - Dirk Visser, Ketterij als Motor van de Kerkgeschiedenis – Interview met Johannes Harder, in: Doopsgezinde Bijdragen 8, 1982, 84–87. - Hans-Jürgen Goertz, Die Autorität des Radikalen. Ein Brief zum 80. Geburtstag. In: Mennonitische Blätter 2, 1983, 20–21. - Horst Gerlach, Mennonites, the Molotschna, and the Volksdeutsche Mittelstelle in the Second World War, in: Mennonite Life 41,3, 1986, 4–9. - Johannes Harder, Commentary, in: Mennonite Life 41,4, 1986, 27. - Al Reimer, Johannes Harder. A Reflective Tribute to a Remarkable Mennonite. In: Journal of Mennonite Studies 5, 1987, 167 – 171. - Ders., Johannes (Hans) Harder: Writer, Intellectual, Radical Christian, 1903–1987, in: Harry Loewen (Hg.), Shepherds, Servants and Prophets, Kitchener, Ont., 2003, 149–162. - Hans-Jürgen Goertz, Ein Hauch von Anarchie. Zum Tode von Johannes Harder (1903 – 1987), in: Die Brücke 5, 1987, 68 – 69. - J. Wozniak, Das Wolgadeutsche Geschichtserlebnis der „guten alten Zeit“ (1763 – 1914) in der deutschen Prosa der Zwischenkriegszeit, in: Zwischen Reform und Revolution. Die Deutschen an der Wolga 1860 – 1917, hg. von D. Dahlmann und R. Tuchtenhagen, Essen 1994, 356 – 371.

Lexikonartikel

Al Reimer, Art. Harder, Johannes (Hans), in: Mennonite Encyclopedia V (1990), 362; Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online (letzte Änderung 2010). - Daniel Heinz, Art. Harder, Johannes, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon: www.bautz.de/bbkl, Bd. XV, 685 – 688, 1999/2008). - Art. Harder, Johannes, in: wikipedia (letzte Änderung 2010), ausführliche Bibliografie der Werke Johannes Harders.

Hans-Jürgen Goertz

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