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Westpreußen
Westpreußen umfasst das Gebiet zwischen Danzig und Elbing im Norden und entlang der Weichsel bis nach Graudenz, Kulm und Thorn. Täufer aus den Niederlanden fanden hier seit dem frühen 16. Jahrhundert eine Zuflucht. Von Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1945 beherbergte Westpreußen die größte Ansammlung von Mennoniten im deutschsprachigen Raum. Nach der Auswanderung in russische Gebiete ab 1788 und in die Vereinigten Staaten ab 1874 war Westpreußen der Herkunftsort von Hunderten mennonitischer Gemeinden →Nordamerikas, →Uruguays, Zentralasien bis nach Sibirien (→Russland) und Westdeutschlands (→Deutschland).
Das Gebiet war ursprünglich von baltischen Preußen („Pruzzen“) bewohnt, im 13. Jahrhundert wurde es von den Rittern des Deutschen Ordens erobert und gewaltsam christianisiert. 1309 verlegte der Deutsche Orden seinen Sitz in die Marienburg im östlichen Weichseldelta und herrschte von dort über einen quasi-unabhängigen Staat entlang der Ostseeküste von Danzig bis ins heutige Estland. 1466 besiegte der polnische König den Deutschen Orden und eroberte das westliche Ordensgebiet, das dann als königliches Preußen zur polnischen Krone gehörte. Das übrige Deutschordensgebiet wurde 1525 im Zuge der Reformation in ein weltliches Herzogtum Preußen umgewandelt, das 1618 durch Erbschaft an die Kurfürsten von Brandenburg fiel. Diese regierten nun beide Länder in Personalunion. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg proklamierte sich 1701 zum König in Preußen. Friederich II., der sich nun König von Preußen nannte, änderte 1772 – nach der ersten polnischen Teilung – die Bezeichnung und nannte die beiden Teile Preußens nun West- und Ostpreußen.
1. Die Anfänge der mennonitischen Niederlassung im königlichen (polnischen) Preußen
Einheimische Bewohner zeigten zwar schon früh Interesse an radikalen Strömungen der Reformation, Wurzeln aber schlug das Täufertum im Osten erst durch Flüchtlinge, die hier ein Ort der Toleranz suchten. Da dieses Gebiet außerhalb des Heiligen Römischen Reiches lag, konnten die Reichsgesetze gegen die „Wiedertäufer“, wie die Reichsacht, keine Wirkung entfalten. Angesichts der bereits vorhandenen ethnischen und religiösen Vielfalt, der dezentralen staatlichen Strukturen und des obrigkeitlichen Bemühens, einen Bürgerkrieg zu vermeiden, fanden religiöse Außenseiter wie die Mennoniten Duldung im polnischen Ständestaat und wurden in die Lage versetzt, mit den lokalen Behörden besondere Privilegien aushandeln.
Danzig war für die →Niederlande zu dieser Zeit der wichtigste Hafen in Polen. Dort kauften niederländische Handelsleute Getreide und Holz und verkauften Textilien und andere Fertigwaren. Das waren günstige Bedingungen für die Flüchtlinge, von denen einige sich in und um die Städte Danzig und Elbing niederließen. Menno →Simons besuchte sie zwischen 1547 und 1552 mehrmals und schrieb 1549 einen Brief an die „Gemeinde in Preußen.“ Dirk →Philips galt als Ältester der Danziger Gemeinde von 1561 bis 1567, obwohl er in jenen Jahren viel unterwegs war.
Ab 1572 ersetzte die Bezeichnung „Mennoniten“ den Begriff der „Täufer“ in Regierungsdokumenten. Mennoniten mussten sich außerhalb der Stadtmauern in Danzig niederlassen, sie standen dort unter dem Schutz des Bischofs von Kujawien, der sie gern als fähige Handwerker in Anspruch nehmen wollte, um die Konkurrenz zu den Zünften in der Stadt zu fördern. Dabei spielte die Einführung der Spitzen-Klöppelei (textile Dekoration aus Garnen) durch mennonitische Handwerker eine besonders wichtige Rolle. Auch in Elbing ließen sich Mennoniten nieder. Einige wenige Täuferflüchtlinge aus der Schweiz, Süddeutschland und Mähren gesellten sich hinzu, auch schlossen sich von Anfang an Einheimische den Gemeinden an. Hutterer (→Hutterische Bruderhöfe), die nach dem Umsturz in Mähren geflohen waren, gründeten im 17. Jahrhundert einen Bruderhof südlich von Elbing.
Abgesehen vom Interesse an den Flüchtlingen warben lokale Eliten zusätzliche niederländische Mennoniten an. Ihr Know-how sollte bei der Entwässerung sumpfiger Landstriche genutzt werden. So entsandte Danzig 1547 Philip Edzema, um Siedler anzuwerben, die die Sümpfe östlich der Stadt trockenlegen sollten. Im Großen Werder zwischen Weichsel und Nogat gab Michael Loitz, Stadtverordneter in Danzig, in den 1550er Jahren einen wichtigen Anstoß zur Ansiedlung der Mennoniten. Er erwarb das Recht, Land der Krone als Rückzahlung eines Darlehens, das er König Sigismund II. August eingeräumt hatte, zu pachten und an Siedler weiterzugeben.
Als die Mennoniten aus Elbing vertrieben worden waren, begannen sie 1550 in der Elbinger Niederung westlich der Stadt im nahegelegenen Sumpfgebiet von Ellerwald zu siedeln, das Elbinger Bürgern gehörte. Später konnten sich einige Mennoniten wieder in der Stadt niederlassen und 1590 sogar ein Versammlungshaus erwerben, das noch heute steht.
2. Die Mennoniten in der polnischen Ständegesellschaft
Die mennonitische Existenz in der polnischen Ständegesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts zeichnete sich durch stetiges Wachstum und ständige Auseinandersetzungen mit polnischen Behörden aus. Die Mennoniten brachten die niederländische Spaltung des 16. Jahrhunderts in einen friesischen und einen flämischen Zweig nach Polen mit. Dies hatte in →Danzig zur Gründung zweier Gemeinden geführt. Die kleinere friesische Gruppe bezog ihr eigenes Versammlungshaus 1638, die größere flämische Gruppe 1648. Beide Gebäude lagen außerhalb der Stadtmauern. Zunächst leiteten Älteste aus Danzig die jeweiligen Gemeinden in der Region, obwohl die Friesen in Montau flussaufwärts bereits 1586 einen eigenen Ältesten und ein Versammlungshaus hatten. Die flämischen Landgemeinden im Großen Werder wählten 1639 einen Ältesten, Hans Siemens. Zunächst hatte diese große Gemeinde ihren Mittelpunkt in Rosenort und traf sich dort in Häusern und Scheunen.
Die flämische Gemeinde im Großen Werder war in vier Gruppen aufgeteilt, jede mit ihren eigenen Predigern und Diakonen, behielt aber einen einzigen gemeinsamen Ältesten. Rosenort errichtete 1754 ein Versammlungshaus, in dem der erste Abendmahls-Gottesdienst am 2. März 1755 mit 1566 Teilnehmern gefeiert wurde. Die anderen drei Gemeinden in Ladekopp, Tiegenhagen und Fürstenwerder wie auch die Gemeinde Heubuden konnten schließlich im Jahr 1768 Gemeindehäuser bauen. Bis 1856 waren aus allen vier Gruppen unabhängige Gemeinden entstanden. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war die Herausgabe des ersten deutschsprachigen Gesangbuchs: Geistreiches Gesangbuch (1767).
Die friesische Landgemeinde in Orlofferfelde (Großes Werder) erlangte 1723 ihre Selbstständigkeit. Neben Montau gab es friesische Gemeinden in Schönsee, in der Nähe von Kulm und Thiensdorf südlich von Elbing. Gemeindeglieder wanderten in den 1710er Jahren ins Herzogtum Preußen aus, wurden aber 1724 von dort vertrieben, als bekannt wurde, dass sie den Militärdienst verweigerten. Sie kehrten ins königliche Preußen zurück und gründeten Tragheimerweide, die letzte neue Siedlung der Mennoniten im Weichseltal. Bei Kulm war die Gemeinde Wintersdorf entstanden, die den konservativen Alten Flämingern verpflichtet war.
Typisch für die gelegentlichen Probleme mit den Behörden war eine Überprüfung der Mennoniten in Danzig. Während der „Schwedischen Sintflut“ (polnisch-schwedischer Krieg) von 1655–1660 waren die polnischen Stände von nichtkatholischen Eroberern bedrängt worden, was innerhalb des Landes zur Unterdrückung der Nicht-Katholiken führte und zur Ausweisung der polnischen Brüder, auch Sozinianer oder Arianer genannt, durch ihre Gegner. 1678 ordnete der Hof eine Befragung der Mennoniten in Danzig wegen des Verdachts an, sozinianischen Vorstellungen anzuhängen. Am Ende schrieb Georg Hansen, einer der Pastoren der flämischen Gemeinde, dass sie von allem Verdacht befreit worden waren, aber dafür finanziell stark belastet wurden.
Wie dem Kommentar Hansens zu entnehmen ist, wurden die Mennoniten zu unterschiedlichen Zeiten mit Extrasteuern belegt, auch wurde ihnen die Beschlagnahmung ihres Eigentums angedroht und ihre Ausweisung als gefährliche Wiedertäufer und Ketzer gefordert. Die Mennoniten lernten, Unterstützung bei den unterschiedlichen Behörden eines dezentralisierten Staates zu finden. Sie standen unter königlichen Schutz, seit Władysław IV. 1642 ein königliches Privileg erteilt hatte, das ihnen gesetzliche Rechte und Freiheiten gewährte. Sein Dekret erwähnte ähnliche Schutzrechte, wie sie bereits von seinem Großvater Sigismund II. August (1548–1572) eingeräumt worden waren. Im dezentralisierten polnischen Staat konnte die eine Behörde die Mennoniten in einem Fall zu verschiedenen Zeiten bei unterschiedlichen Anliegen unterstützen und im anderen Falle stark einschränken, so dass die Mennoniten ein Geschick entwickelten, nach den günstigsten Möglichkeiten der Unterstützung unter den konkurrierenden politischen Akteuren mit Erfolg zu suchen.
3. Die Mennoniten im Königreich Preußen
Zwischen 1772 und 1795 verschwand der polnische Ständestaat von der Landkarte Europas, nachdem Preußen, Österreich und Russland Polen unter sich aufgeteilt hatten. Die Mennoniten in Westpreußen lebten nun unter dem König von Preußen. Sie hatten 1772 einen Anteil von drei Prozent an der Gesamtbevölkerung, aber im Landkreis Marienburg, im Herzen des Großen Werders, wo die meisten Siedlungen lagen, hatten sie einen Anteil von zehn Prozent und bewirtschafteten fünfundzwanzig Prozent des Bodens. Sie begannen, sich umgehend um ihre religiösen Freiheiten zu sorgen, wie sie ihnen von der polnischen Herrschaft gewährt worden waren. Außerdem sahen sie ein, dass sie sich mit der neuen Belastung durch den Wehrdienst auseinandersetzen mussten, einem Thema, das bisher von geringer Bedeutung war, weil Polen über nur ein sehr kleines stehendes Heer verfügte. Sie baten die neue preußische Regierung um ein Privileg zur Freistellung vom Wehrdienst. Sie erhielten es allerdings erst im Jahr 1780. Der Kampf um die Wehrfreiheit und das Hineinwachsen in die deutsche Gesellschaft wurden zum Hauptanliegen der Mennoniten im 19. Jahrhundert (→Wehrlosigkeit).
Die preußische Regierung verhängte eine Pauschalsteuer in Höhe von jährlich 5.000 Reichstalern, die von den Mennoniten zu zahlen war, um vom Wehrdienst befreit zu werden. Ihre Gemeinden entwickelten ein System für die Gebührenerhebung pro Kopf (einschließlich der Frauen) und zusätzlich nach dem jeweiligen Vermögen. Da der Staat die Verpflichtung zur Zahlung gesetzlich unterstützte, wuchsen der mennonitischen Führung neue Vollmachten zu und die Notwendigkeit, einmütig zu handeln, um auf den mächtigeren und zentralisierteren Staat, in dem sie nun lebten, angemessen reagieren zu können. Ein neues Mennoniten-Gesetz verlangte 1789 weitere Steuern zur Unterhaltung der landeskirchlichen Gebäude, außerdem untersagte es die Aufnahme von Außenstehenden in die Gemeinden, selbst wenn sie mennonitisch verheiratet waren, und verbot ihnen, Land zusätzlich zu erwerben. Diese Einschränkung wichtiger Bürgerrechte trennte die Mennoniten von der sie umgebenden Gesellschaft, als die Wirtschaftstätigkeit zunahm und die Industrialisierung zur Beteiligung am wirtschaftlichen Fortschritt einlud. Ein erstes Ergebnis dieser widersprüchlichen preußischen Politik war die 1788 einsetzende Auswanderung nach Russland, die sich bis in die 1880er Jahren fortsetzte. Weitere Dekrete untersagten 1801 zunächst mennonitischen Landbesitzerinnen, ihren mennonitischen Status und ihr Eigentum zu behalten, bevor 1803 eine Obergrenze für den mennonitischen Landbesitz für alle festgelegt würde. Dies jedoch löste 1803 die größte Welle der Auswanderung in die neue Molotschna-Kolonie in Russland aus (→Russland).
Die späteren Jahre der napoleonischen Kriege waren für die Gemeinschaft besonders schwierig. Nach der Eroberung Preußens im Jahre 1806 und der Umwandlung Preußens in einen abhängigen Satelliten startete Napoleon 1812 seine später gescheiterte Invasion nach Russland von preußischem Gebiet aus. Als im Januar 1813 die geschlagenen Reste der napoleonischen Armee durch die mennonitischen Siedlungen streiften, wurden in einigen Gemeinden die Gottesdienste drei Wochen lang ausgesetzt, weil es für die Leute zu gefährlich war, unterwegs zu sein. Ein hastig zusammengerufener Landtag im nahegelegenen Königsberg legte den ersten modernen Entwurf eines Wehrpflichtgesetzes in der deutschen Geschichte vor. Die Mennoniten versuchten mit großem Einsatz, eine Freistellung zu erreichen. Sie zahlten zusätzliche 30.000 Reichstaler und stellten fünfhundert Pferde für die Armee. Während der Revolution von 1848 sahen sich die Mennoniten wieder durch die Wehrpflicht bedroht, als die Frankfurter Nationalversammlung in ihrem Verfassungsentwurf ausdrücklich von den Mennoniten den Wehrdienst forderte. Die Verfassung wurde jedoch nie eingeführt.
Mehrere religiöse Strömungen beeinflussten die preußischen Mennoniten im 19. Jahrhundert. Der Einfluss der Erweckungsbewegungen war wohl am stärksten. Ein Vertreter der Mährischen Brüder besuchte mennonitische Gemeinden bereits im Jahre 1810. Die Gemeinde Heubuden unterstützte ab 1817 die Bibel-Gesellschaft in Berlin. 1826 gründeten Gemeindemitglieder aus Danzig und Heubuden eine Schule in Rodlofferhuben bei Marienburg. Auch Mennoniten förderten 1827 die Gründung der Danziger Missions-Gesellschaft. Die Schule von Rodlofferhuben veranstaltete 1830 das erste große Missionsfest. Nachdem sie starken Anfeindungen durch die protestantische Geistlichkeit von Marienburg ausgesetzt waren, zogen Schule und Missionsfest 1836 nach Bröskerfelde um. Tendenziell unterstützten diese neupietistischen Mennoniten konservative und königstreue Politik. Vom Rationalismus geprägtes Gedankengut zeigte unter den Mennoniten ebenfalls Wirkung. Der führende Verfechter für die Einbeziehung einer wissenschaftlichen Auslegung der Bibel und für mehr Demokratie innerhalb der Gemeinde und der Gesellschaft war Carl Harder. Er war in Königsberg aufgewachsen und wurde 1846 im Alter von 26 Jahren als erster theologisch ausgebildeter Pastor in seiner Heimatgemeinde angestellt. Nur die Danziger Gemeinde, die 1808 durch den Zusammenschluss der flämischen und der friesischen Gemeinde entstanden war, hatten seit 1827 mit Jacob van der Smissen einen angestellten Pastor. Harder trat dafür ein, den Einzelnen entscheiden zu lassen, ob er im Militär dienen wolle oder nicht. Er gestattete auch Eheschließungen zwischen Mennoniten und Nichtmennoniten. Seine gelegentlichen Predigten in Elbing führten zu einer Spaltung in der Gemeinde Elbing-Ellerwald, als einige jüngere Gemeindemitglieder ihn dort anstellen wollten, aber dafür kein Einvernehmen in der Gemeinde finden konnten. Schließlich nahm er 1858 einen Ruf an die Gemeinde in →Neuwied an. 1869 kehrte er nach Elbing zurück, nachdem sich die Umstände in der Gemeinde zu seinen Gunsten verändert hatten.
Die Mehrheit der Mennoniten suchte zwischen diese Strömungen an der Tradition festzuhalten. Jakob Mannhardt, Pastor der Danziger Mennoniten-Gemeinde von 1838 bis 1885, gründete 1854 die Mennonitischen Blätter (→Zeitschriften), um zu versuchen, das intellektuelle Niveau und die Gemeinschaft unter den Mennoniten zu beleben, ohne Anleihen bei religiösen und geistigen Strömungen der Zeit aufzunehmen. In den ländlichen Gemeinden war selbst diese Erneuerung zu viel, und diese Zeitung wurde nur zögerlich abonniert.
4. Mennoniten nach der Gründung des Deutschen Reiches
Preußen führte zwischen 1864 und 1871 drei Kriege, was zur Gründung des Deutschen Reiches 1871 führte. Erneut mussten die Mennoniten wieder Abkommen mit dem neuen Staat aushandeln. Das Parlament des zeitweiligen (interimistischen) Norddeutschen Bundes verhängte 1867 die Wehrpflicht für die Mennoniten. Eine Delegation von fünf Ältesten sprach bei König Wilhelm I. und vielen anderen Beamten vor und bat um die Erneuerung ihrer Befreiung vom Wehrdienst. 1868 erließ der König eine „Kabinettsordre“, die den Mennoniten die Ableistung der Wehrpflicht als Nichtkämpfern (Soldaten ohne Waffen oder Sanitäter, in der Logistik) gestattete. Die Mennoniten verfassten danach viele Bittschriften, die für oder gegen die neue Regelung eintraten und Unfrieden in den Gemeinden stifteten. Der Reichstag verabschiedete 1874 ein Gesetz, das die meisten Beschränkungen der Bürgerrechte aufhob; die Gleichheit bei der Besteuerung wurde jedoch erst 1927 erreicht. 1874 begannen Traditionalisten, die sich nicht mit dem Militärdienst in irgendeiner Form abfinden konnten, in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern. Die Auswanderung dorthin und nach Russland hielt noch bis in die 1880er Jahre an und umfasste rund fünfzehn Prozent der mennonitischen Bevölkerung. Diejenigen, die geblieben waren, konnten jetzt wirtschaftliche Chancen und Bildungsmöglichkeiten in verstärktem Maße wahrzunehmen. Die städtischen Gemeinden beteiligten sich 1886 an der Gründung der neuen →Vereinigung der Mennoniten im Deutschen Reich. Die Landgemeinden standen dieser nationalen Institution bis nach dem Ersten Weltkrieg zurückhaltend gegenüber. Weil sogenannte Mischehen jetzt erlaubt waren, gab es neue Verbindungen zur Gesellschaft, wie am Beispiels Erich →Göttners sichtbar wird. Sein Vater gehörte der evangelischen Kirche an, und er selbst wurde 1927 Pastor in der Danziger Mennoniten-Gemeinde. Zahlreiche preußische Mennoniten leisteten Beiträge zur deutschen Kultur. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Wilhelm →Mannhardt in Volkskunde und Hugo Conwentz als Begründer des Naturschutzes.
Im Ersten →Weltkrieg kämpften die Mennoniten meist als Soldaten unter Waffen, weniger als ein Drittel nahm die rechtliche Möglichkeit wahr, waffenlos im „Train“ oder als Sanitäter zu dienen. Bis zum November 1915, als die Regierung den Mennonitischen Blättern die Veröffentlichung von Gefallenen und Ordensverleihungen untersagte, fielen 144 Mennoniten im Kampf, und 91 wurden mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.
Nach dem Ersten Weltkrieg fanden sich die westpreußischen Gemeinden in drei verschiedenen Staaten wieder. Die meisten Gemeinden gehörten zum Freistaat Danzig, der gemäß dem Vertrag von Versailles als Puffer zwischen Deutschland und Polen errichtet wurde. Die Gemeinden am Oberlauf der Weichsel lagen jetzt in Polen, während die Gemeinden östlich der Nogat in die deutsche Exklave von →Ostpreußen eingegliedert wurden. Die Mennoniten waren wie die anderen Deutschen in diesen Gebieten über die Auflagen des aufgezwungenen Friedensvertrages empört und blieben gegenüber der Weimarer Republik, die auf das Reich folgte und von Sozialdemokraten geführt wurde, misstrauisch.
5. Das Dritte Reich, der Zweite Weltkrieg und die Auflösung der Gemeinden
Die Mennoniten waren in den 1930er Jahren noch überwiegend ländlich geprägt. Ihre starke Identifikation mit Deutschland, ihre Berührung mit dem Terror, dem die Mennoniten in der Sowjetunion ausgesetzt waren, und ihre Ablehnung des Versailler Vertrags ließen ihre Unterstützung des →Dritten Reiches und seiner landwirtschaftsfreundlichen sowie antikommunistischen Politik natürlich erscheinen. Die Nationalsozialisten gewannen im Juni 1933 die Wahlen im Freistaat Danzig und versuchten, Adolf Hitlers Herrschaft in diesem kleinen Gebiet aufzurichten. Die Aufsicht durch den Völkerbund verhinderte einige ihrer Winkelzüge. Die Anpassung der mennonitischen Theologie, sofern es eine solche in geschlossener Form überhaupt gab, an die nationalsozialistische Ideologie war in den Gemeinden umstritten. Erich Göttner unterhielt in Danzig Kontakte zur Bekennenden Kirche, die gegen die Verschmelzung der Rassenideologie mit der Theologie eintrat. Die Mennoniten konnten die befürchtete Übernahme der mennonitischen Gemeinden durch die sogenannten Deutschen Christen erfolgreich abwenden.
Abgesehen von ihren ureigensten Anliegen waren die Mennoniten eifrig bemüht, die Politik der Regierung zu unterstützen, und versprachen schon 1933 – zwei Jahre, bevor die Wehrpflicht in Deutschland wiedereingeführt wurde – eine Befreiung vom Wehrdienst nicht mehr anzustreben. Tonangebend war vor allem der Elbinger Pastor Emil →Händiges, der Vorsitzende der Vereinigung der deutschen Mennonitengemeinden. Die Mennoniten in Polen wurden in die polnische Armee eingezogen, so dass am 1. September 1939, als deutsche Truppen in Polen einmarschierten, Mennoniten in gegnerischen Armeen dienten. Zu Beginn des Krieges (→Weltkrieg, Zweiter) wurde ein Konzentrationslager in Stutthof bei Danzig eröffnet, und eine Reihe von mennonitischen Landwirten und Unternehmern setzten Häftlinge zur Zwangsarbeit ein. Als Hitler am 19. September 1939 im Artushof empfangen wurde, war der mennonitische Landrat Walter Neufeldt Teil der offiziellen Delegation. Abraham →Esau aus Tiegenhagen war an den Forschungen zur Nutzung der Kernphysik beteiligt und arbeitete später an einer Verbesserung des Funkverkehrs für die Wehrmacht.
Viele Mennoniten dienten in der Armee und fanden den Tod; genaue Zahlen sind nicht bekannt. Im Sommer 1943 wurden 30.000 Mennoniten aus Russland in den Warthegau südlich von Westpreußen umgesiedelt. Es wurden Kontakte aufgebaut, um sie zu unterstützen. Als im Januar 1945 die Front näher rückte, wurde die Evakuierung der Bevölkerung nach Westen angeordnet. Davon waren ungefähr 10.000 westpreußische Mennoniten betroffen. Etwa 1.800 Mennoniten kamen mit Schiffen nach Dänemark, wo ihnen Mitarbeiter des Mennonite Central Committee ab September 1945 zu helfen begannen. Etwa 700 Mennoniten wanderten 1948 mit den Ältesten Bruno →Ewert und Ernst Regehr nach Uruguay aus, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. In die britische Besatzungszone in Nordwestdeutschland kamen etwa 5.500 (Zählung 1948) mennonitische Flüchtlinge, etwa tausend westpreußische Mennoniten lebten in der amerikanischen und französischen Zone; vielleicht ebenso viele in der sowjetischen Zone. Etwa 1000 könnten auf der Flucht umgekommen sein. Das →Mennonite Central Committee half auch beim Bau von Siedlungen für die Flüchtlinge in →Backnang, Bechterdissen bei →Bielefeld, →Enkenbach, →Wedel, →Espelkamp und auf der Torney bei →Neuwied. Die westpreußischen Gemeinden waren aufgelöst und die mennonitischen Versammlungshäuser und Friedhöfe aufgegeben worden.
Der Kalte Krieg, die kommunistische Regierung in Polen und die angespannten deutsch-polnischen Beziehungen machten Besuche im ehemaligen Westpreußen zunächst unmöglich, sehr beliebt wurden Besuchsreisen erst nach 1990.
Mit viel Mühe konnte die pfingstlerische Gemeinde das ehemalige Danziger Versammlungshaus erwerben und 1958 für den gottesdienstlichen Gebrauch wiederherrichten. Katholiken verwenden jetzt die Kirchen in Preussisch Rosengart, Montau und Obernessau, die altkatholische Kirche nutzt das Gebäude, das für Carl Harders Gemeinde in Elbing gebaut wurde. Die meisten anderen Gemeindehäuser sind zerstört. Seit 1990 interessieren sich die Polen vor Ort, von denen die meisten ihre Wurzeln in der Westukraine hatten und nach dem Krieg als Flüchtlinge angesiedelt wurden, für das mennonitische Erbe im Weichseldelta. Sie arbeiten mit internationalen mennonitischen Gruppen, wie dem →Mennonitischen Arbeitskreis Polen und der →Mennonite Polish Studies Association zusammen, um diese Geschichte bewahren zu helfen.
Bibliografie (Auswahl)
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Mark Jantzen