Niederlande

1. Die Anfänge mennonitischer Gemeindebildungen

Ab 1530 ist in den südlichen Niederlanden (heute Belgien) und den nördlichen Niederlanden (heute Niederlande) die Bewegung der →Täufer nachweisbar. Melchior →Hoffman, der als Pelzhändler und Laienprediger in einigen Ländern an der Ostsee für eine reformatorische Erneuerung der Kirche wirkte, war in Straßburg mit Täufern in Kontakt gekommen. Nachdem er aus Straßburg ausgewiesen worden war, wanderte er nach →Emden in Ostfriesland, wo er die täuferische Bewegung mit großem Eifer vorantrieb und ungefähr dreihundert Personen taufte. Offensichtlich gab es hier einen Nährboden dafür, ebenso unter den Flüchtlingen aus den Habsburgischen Niederlanden. Während die kirchenkritische Bewegung der so genannten Sakramentarier in Emden noch geduldet wurde, gab es für jene, die den radikaleren Auffassungen der Täufer anhingen, keinen Platz. Hoffman ging nach Straßburg zurück und hatte vorher die Führung der Getauften im Norden Jan Volkertszoon Trypmaker anvertraut. Auch dieser musste fliehen und kam nach →Amsterdam, dort bildeten sich aus der schon bestehenden Bewegung täuferische Gemeinden. Auch in die Provinz Friesland wurde das täuferische Gedankengut getragen und zwar von Sicke Freerks, der ebenfalls in Emden getauft worden war. Er wurde 1530 gefangen genommen und enthauptet.

In den Niederlanden war schon vor dem reformatorischen Aufbruch des 16. Jahrhunderts vom Humanismus inspirierte Kritik an der römisch-katholischen Kirche laut geworden. Wortführer dieser Bewegung war →Erasmus von Rotterdam. Er hatte das Neue Testament aus dem griechischen Originaltext ins Lateinische übersetzt und weitere Übersetzungen der gesamten Heiligen Schrift angeregt. Sie haben entscheidend dazu beigetragen, das Eindringen reformatorischer Impulse, die sich mit den Bemühungen der Devotio Moderna um eine Erneuerung der allgemeinen Frömmigkeit unter den Laien mischten, in den Niederlanden zu fördern.

In den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts wuchs die täuferische Bewegung trotz Unterdrückung und Verfolgung heran und folgte der Vision, der Melchior Hoffman in seinem Traktat über De ordonnantie Gods (1530) einen klaren Ausdruck gegeben hatte, im Anschluss an das Sendungsgebot Jesu in Matthäus 28, alle Menschen einzuladen, sich zu Gemeinden aus erneuerten Menschen zu verbinden, d. h. einen Bund mit Jesus Christus einzugehen. Dieser Bund sollte durch die Taufe besiegelt und im Abendmahl zur Erinnerung an das versöhnende Leiden und Sterben Christi gefeiert werden.

Ein Teil der täuferischen Bewegung lebte in der Vorstellung, dass das Ende der Zeiten nahe herbeigekommen sei und Christus bald wiederkehren werde. Dieser Gedanke wurde so stark, dass Jan Matthijs aus Haarlem, ein Anhänger Hoffmans, die Führung der Täufer übernahm und Münster in Westfalen als den Ort dieser Wiederkehr ins Auge fasste. Andere Städte, wie Straßburg, waren aus praktischen und politischen Gründen ausgeschieden. Münster war indessen unter der Führung →Bernhard Rothmanns zum täuferischen Bollwerk in der Endzeit herangewachsen (→Münster). Matthijs konnte dort als Prophet eine Führungsrolle übernehmen, die Stadt wurde jedoch von Truppen des Bischofs und den Reichsständen belagert und Matthijs war bei einem Versuch, aus der Stadt auszubrechen, umgekommen. Die Führung ging auf Jan Beukelszoon, einen „Rederijker“ (Mitglied eines Vereins zur Förderung des Handels und der Künste) aus Leiden, über, und die Täuferherrschaft wurde zum Königreich Zion am Ende der Tage erklärt. Am 25. Juni 1535 wurde die Stadt zurückerobert, und die Anführer wurden zum Tode verurteilt. Die versprengten Täufer wurden verfolgt, besonders auch in Friesland und in den westlichen Provinzen. Was vorläufig übriggeblieben war, waren militante, teilweise marodisierende und brandschatzende, genauso wie sich zurückziehende und friedlich gesinnte Täufer.

1537 rückte Menno →Simons, Priester in Witmarsum, ins Rampenlicht der täuferischen Bewegung, die in seine friesische Umgebung eingedrungen war. Schon seit einiger Zeit hatte er sich mehr und mehr von den „römischen“ Praktiken seiner Kirche entfernt, er war durch seine evangelischen Predigten aufgefallen und hatte begonnen, mit den Gedanken der Täufer zu sympathisieren. Sein Bruder war bei einem Sturm der Täufer auf das Oldeklooster in Bolsward umgekommen, und das gab vielleicht den letzten Anstoss, Ende des Jahres 1536 sein Priesteramt aufzugeben. Nach einigen Jahren, in denen er sich vor den Verfolgungsbehörden verborgen halten musste und immer tiefer in die täuferische Bewegung hineingewachsen war, veröffentlichte er sein Fundament des Christelycken Leers (1539/40). Mit dieser umfangreichen Schrift, die den Glauben der Täufer erläuterte und rechtfertigte, wurde er zum Wortführer einer reformatorischen Bewegung weit über Friesland hinaus. Er trennte sich von der apokalyptischen Militanz der Täufer und sammelte die Friedfertigen zu kleinen Gemeinden, er trennte sie auch von den spiritualistischen Einflüssen, die von dem Delfter Glasmaler David →Joris ausgegangen waren, und warb um die Gunst der Obrigkeiten. Dennoch wurden auch diese Täufer, die sich als die „Stillen im Lande“ behaupten wollten, weiterhin verfolgt, vor allem in Friesland, Groningen und Nordholland, auch in anderen großen Städten. Viele starben den Märtyrertod (→Martyrium).

Erst mit dem Abfall der Niederlande von der Spanischen Krone unter Willem von Oranje ging es den Mennoniten besser. 1579 wurde ihnen in der Utrechter Union öffentliche Religionsausübung gewährt. Sie hatten den Freiheitskampf für die Generalstaaten von Holland aktiv unterstützt und wurden bald als „goede patriotten und liefhebbers van de staat dezer landen“ gelobt (Samme Zijlstra, Om de ware gemeente, 479). Sie bemühten sich mit starkem Engagement darum, das Wohl des Staates und der Mitbürger vor allem durch diakonische Arbeit zu fördern.

Auch die gemäßigten oder friedfertigen Täufer bildeten keine homogenen Gemeinden. Schon früh traten unterschiedliche Vorstellungen von der Gemeinde auf den Plan und führten zu mancherlei Zank und Streit, unter den Ältesten vor allem um die Anwendung des Banns, der die Gemeinde rein halten sollte: um den Ausschluss von Gemeindemitgliedern, die gefehlt haben, und um die Meidung des Ehepartners in solchen Fällen. Dennoch entstanden Verbände von Gemeinden, die sich um den rechten Glauben und um einen friedfertigen Lebensstil bemühten: die Waterländer, die alten und die jungen Flamen, die harten und die schwachen Friesen, die Hochdeutschen. Im 17. Jahrhundert setzte ein Prozess ein, die Gemeinden mit Hilfe von Glaubensbekenntnissen (→Bekenntnisse) zusammenzuhalten und Zwistigkeiten unter ihnen zu überwinden. Ihr Ziel war es, Frieden unter den zerstrittenen Gruppen wieder herzustellen.

Neuer Streit entbrannte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Amsterdam und verbreitete sich weit ins Mennonitentum anderer Regionen hinein. Die flämische Gemeinde zum Lamm setzte sich mit ihrem Wortführer, dem Arzt und Prediger Galenus Abrahamsz de Haan, dafür ein, die Zugehörigkeit der Gläubigen zur Gemeinde nicht von einem doktrinär formulierten Bekenntnis abhängig zu machen, während die Gemeinde zur Sonne an solchen Bekenntnissen festhielt. Der Streit entwickelte sich zu einem regelrechten „Lämmerkrieg“ zwischen konservativen und fortschrittlichen, an der frühen →Aufklärung teilnehmenden Mennoniten. Ein vorläufiges Ende fand dieser Dissens erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als beide Amsterdamer Gemeinden sich 1801 miteinander vereinigten (→Amsterdam). Andererseits war dieser Dissens so schwerwiegend, dass seine Nachwirkungen auch die weitere Geschichte der niederländischen Mennonitengemeinden durchzogen und hier und da noch spürbar sind.

2. Von der frühen Aufklärung zur Moderne: Wohlstand und kulturelle Blüte

Die Niederlande haben sich im nordatlantischen Raum zu einem wichtigen Handelszentrum entwickelt und ein Gemeinwesen geschaffen, das zu einem Vorbild für sich modernisierende Staaten in Europa wurde. Es war dieses „Goldene Zeitalter“, das auch die niederländischen Mennoniten auf den Weg brachte, sich von Grund auf neu zu verstehen. Am wachsenden Wohlstand haben zahlreiche Mennoniten nicht nur teilgenommen, sondern sogar geholfen, ihn auf effiziente Weise herbeizuführen. Besonders ertragreich war das berufliche Engagement in Gewerbe, Handel und Schifffahrt. Mennonitische Unternehmer, zunächst vor allem Gemeindemitglieder der waterländischen Kirche Bij de Toren in Amsterdam, waren in die Handelsschifffahrt eingestiegen und hatten sich besonders auf die Handelsrouten im Ostseeraum konzentriert. Dieses Unternehmertum ließ sich mühelos mit der Zugehörigkeit zu einer mennonitischen Gemeinde vereinbaren und trug dazu bei, den Prozess gesellschaftlicher Assimilation der einst randständischen Täufer voranzutreiben und zum Erfolg zu führen. Problematisch wurde die Handelsschifffahrt für einige Reeder und Schiffseigner, als die Notwendigkeit wuchs, die Schiffe gegen Piraterie mit Kanonen auszurüsten und die Mannschaft unter Waffen zu stellen. Die Gemeinden fassten den Entschluss, um des pazifistischen Erbes willen auf einen solchen militärischen Einsatz zu verzichten und sich auf Handelsrouten, eben den Ostseeraum, zu beschränken, der weitaus sicherer war als die Routen nach Übersee und ohne militärischen Schutz auskam (Mary Sprunger, Waterlanders and the Dutch Golden Age, 133–148). Einige Reeder folgten dem Rat der Gemeinden, andere setzten sich darüber hinweg. Von dem Wohlstand der mennonitischen Handelselite profitierten die Gemeinden mit ihren verschiedenen Aktivitäten allgemein; sie nahmen auch die von den Wohlhabenden ausgehenden Anregungen auf, sich den philanthropischen, pädagogischen und wissenschaftlichen Innovationen zu öffnen: Sie waren im 18. und 19. Jahrhundert am Entstehen von Lesegesellschaften beteiligt und kümmerten sich um die Verbreitung aufklärerischer Literatur, einige unter ihnen unterhielten Beziehungen zu dem Philosophen Baruch Spinoza, brachten bildende Künstler und Literaten hervor und nahmen insgesamt am naturwissenschaftlichen und kulturellen Leben intensiv teil (→Aufklärung, Samme Zijlstra, Om de ware gemeente, 484–493). 1735 wurde das →Doopsgezinde Seminarium an dem Athenaeum Illustre, aus dem später die Universität von Amsterdam hervorging, unter dem besonderen Einsatz von Johannes Deknatel, einem Prediger der Amsterdamer Lamisten gegründet, der enge Beziehungen zu Nikolaus von Zinzendorf und dessen Anhängern in den Niederlanden unterhielt. Das Seminar sollte für die akademische Ausbildung der mennonitischen Prediger sorgen. Solche Impulse gingen vor allem von den Mitgliedern der flämischen Gemeinde zum Lamm aus, beeinflussten in gemäßigter Weise aber auch die Zonisten, so dass eine Aufbruchstimmung unter den Mennoniten insgesamt entstanden war, die mit den allgemeinen Bemühungen im Staatswesen um eine aufgeklärte Freiheitskultur einherging. 1784 wurde die Maatschappij tot Nut van ´t Algemeen im Hause eines mennonitischen Predigers in Edam gegründet, eine Gesellschaft zur Förderung allgemeiner, nicht nur auf die eigene Kirche konzentrierter Wohlfahrt. Zu diesem Aufbruch gehörte auch charitatives Engagement. Das Armenwesen, für das die Diakone der Gemeinden zuständig waren, wurde ausgebaut, Waisenhäuser und Frauenstifte („Hofjes“) wurden eingerichtet. Auch Glaubensflüchtlinge in anderen Ländern, wie in der Schweiz oder der Pfalz, wurden aus dem Fonds voor Buitenlandsche Nooden (Hilfsfonds für Ausländische Bedürfnisse) unterstützt. Dieser Fonds wurde 1758 aufgelöst, weil die Verfolgungen inzwischen aufgehört hatten. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde er wiederbelebt, um russischen Mennoniten auf ihrer Flucht in den Westen finanziell zu helfen.

Um 1700 hatten sich überall im Land Gemeinden gebildet und gefestigt, in Friesland waren es um 1650 ungefähr 63 Gemeinden, in Groningen und Umgebung ungefähr 40 Gemeinden. Städtische Zentren waren Amsterdam, Haarlem und Groningen. In einigen Städten gab es mehrere Gemeinden mit unterschiedlicher Ausrichtung: Waterländer, Flamen, Friesen und Hochdeutsche, einige Unter- oder Nebengruppen kamen noch hinzu. Viele Gemeinden hatten sich bereits miteinander verbunden und das angestrebte Bemühen um eine Einheit der Mennoniten zum Erfolg geführt. Neben einigen Gemeinden mit ein- bis viertausend Gemeindegliedern (Amsterdam, Haarlem, Groningen und Umgebung) waren es vor allem kleinere Gemeinden, die weit verstreut im Land existierten. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung war gering, doch es gab kleine Orte, z. B. Sappemeer, in denen fast die Hälfte der Bevölkerung mennonitisch war (Eine informative Übersicht über die Verbreitung der taufgesinnten Gemeinden in den Niederlanden bietet Samme Zijlstra, Om de ware gemeente, 458–463).

Mit der ausgesprochen loyalen Einstellung zur weltlichen Obrigkeit und der patriotischen Gesinnung wurde das täuferische Prinzip der Wehrlosigkeit am Ende des 18. Jahrhunderts aufgegeben. Es kam zu einer konsequent vollzogenen gesellschaftlichen Assimilation. Während der Franzosenzeit um 1800 wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, die auch für die Mennoniten galt; wer wollte, konnte sich ihr allerdings auch entziehen. Die gelungene Integration einer religiösen Minderheit, die ihre konfessionellen Wurzeln im Nonkonformismus der Reformationszeit hatte und von Verfolgung und Tod geprägt wurde, war allerdings ambivalent. Einerseits hatte sie zu einer religiös-kulturellen Blüte des Gemeindelebens geführt und andererseits zu einem konfessionellen Identitätsverlust und einem bemerkenswerten Mitgliederschwund in den Gemeinden (der Mitgliederbestand war von schätzungsweise 160.000 auf 28.600 Personen zwischen 1700 und 1800 gesunken). So konnte der Ausgang dieses Prozesses als Krise des niederländischen Mennonitentums beschrieben werden. Verschiedenes kam zusammen. Ein starker Geburtenrückgang in den Gemeinden, der sich als Nachwirkung der traditionellen Binnenheirat unter den Mennoniten erklärt, Stagnation der Wirtschaft in den Niederlanden und Abwanderung vieler Gemeindemitglieder in die staatstragende reformierte Kirche (Sjouke Voolstra, ‚The Hymn to freedom', 194). Eine solche Abwanderung fiel vielen Mennoniten umso leichter, als die →Taufe, das entscheidende Kennzeichen der täuferischen Gemeinden, inzwischen stark individualisiert worden war, sie wurde an das mehr oder weniger freie Bekenntnis eines jeden Einzelnen gebunden und hatte ihren Eingliederungscharakter in eine konkrete, konfessionell fest gefügte und begrenzte Gemeinde eingebüßt. In dieser krisenhaften Entwicklung fanden die zonistischen und lamistischen Mennonitengemeinden wieder zueinander und vereinigten sich 1801 erstmals in Amsterdam zu einer Vereinigten Taufgesinnten Gemeinde. Zehn Jahre später schlossen sich fast alle Gemeinden in den Niederlanden zur →Algemene Doopsgezinde Sociëteit zusammen. Sie förderte die Ausbildung des theologischen Nachwuchses für die Gemeinden und unterstützte notleidende Gemeinden finanziell. Dieser Zusammenschluss hat sich bis in die Gegenwart erhalten und bestimmt immer noch das Gemeindeleben der niederländischen Mennoniten. In dieser Zeit wurden auch die Verbindungen zu den →Remonstranten enger. Mennoniten und Remonstranten waren kleine Dissentergemeinschaften, vor allem in höheren Schichten der Gesellschaft mit einer Abneigung gegenüber einem Dogmatismus und einer Betonung der Individualität und Offenheit gegenüber der Kultur. 1796 versuchten die Remonstranten, alle protestantische Kirchen zur Einheit zu bewegen. Mit den Mennoniten war das nur in Dokkum, Friesland, gelungen.

Mit diesem Zusammenschluss innerhalb der ADS waren aber die Spannungen zwischen Konservativen und Freisinnigen nicht endgültig erloschen. Sie flackerten immer wieder auf und führten zu Diskussionen, in denen die Gemeinden sich auf ihr täuferisches Erbe besannen und nach Wegen suchten, es unter den politischen und kulturellen Bedingungen des 19. und 20. Jahrhunderts zur Geltung zu bringen. Einen entscheidenden Anteil hatten daran die Hochschullehrer am Doopsgezinde Seminarium in Amsterdam, vor allem Samuel Muller (1785 – 1875) um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit seinen Versuchen, die biblischen und täuferischen Wurzeln der Mennoniten erneut ins Gespräch zu bringen und einen Ausgleich zwischen Vernunft und Offenbarung zu finden. Samuel Muller, der aus →Krefeld stammte, hatte eine Position zwischen liberaler Theologie seiner Zeit und konservativen bzw. pietistisch orientierter Gemeindefrömmigkeit eingenommen und den niederländischen Mennoniten das Selbstbewusstsein verliehen, die eigentlich wahre reformierte Kirche zu sein (Annelies Verbeek, „Menniste Paus“. Samuel Muller, 2007; Annelies Vugts-Verbeek und Alle G. Hoekema, Die Mennoniten in den Niederlanden, 105). Viele Gemeinden sind ihm gefolgt, verweigert haben sich diesem Weg beispielsweise die Gemeinden im friesischen Balk, in Alsmeer und Giethoorn. Zahlreiche Gemeindeglieder wanderten aus Balk und →Ouddorp in die USA aus, um sich dort ihre ursprüngliche konfessionelle Identität erhalten zu können, teilweise auch aus wirtschaftlichen Gründen. Später hatte der liberale Theologe und Ethiker Sytze Hoekstra Bzn, von 1857 bis 1892 Universitätsprofessor und Lehrer am Seminarium, einen großen Einfluss auf die niederländischen Mennoniten ausgeübt.

3. Religiöses Selbstbewusstsein und gesellschaftliches Engagement

Das Leben in den Mennonitengemeinden begann nach den Erfahrungen der nachrevolutionären Zeit in der Batavischen Republik wieder zu erwachen, für die sich viele Mennoniten eingesetzt und im Anschluss an die patriotische Bewegung sogar die täuferische Weigerung, staatliche Ämter zu bekleiden, bereitwillig aufgegeben hatten. Zahlreiche Mennoniten wurden Parlamentarier und Minister, ein Mennonit war als Minister sogar für die Marine verantwortlich. Zahlreiche Mennoniten qualifizierten sich auch als Wissenschaftler, Literaten und bildende Künstler. Sie setzten den Weg fort, der bereits in aufklärerischer Zeit beschritten wurde. Nicht vergessen werden darf das besondere Engagement der Mennoniten im allgemeinen Wohlfahrtswesen und in der Mission. Angeregt von Kontakten mit der englischen Baptist Missionary Society, die in den Niederlanden um Spenden warb, haben die Mennoniten 1847 eine eigene Missionsgesellschaft geschaffen, die Doopsgezinde Zendings Vereeniging. Unter dem Eindruck dieser Entwicklung, in der die Gemeinden wieder zu wachsen begannen, wurde gelegentlich davon gesprochen, dass nicht eigentlich das 17. oder 18., sondern das 19. Jahrhundert das „Goldene Zeitalter der niederländischen Doopsgezinden“ war (Verbeek und Hoekema, Die Mennoniten in den Niederlanden, 87).

4. Erneuerung und Krisen im 20. Jahrhundert

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war dieser Aufschwung wieder erlahmt und die niederländischen Gemeinden erneut in eine Krise geraten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging es aber wieder ein wenig bergauf. Belebend haben sich auch die Initiativen ausgewirkt, die um die Wende zum 20. Jahrhundert von der Gemeindetagsbewegung und von →Bruderschaftshäusern ausgingen, die unter dem Einfluss englischer Quäker errichtet wurden, ebenso die Kontakte, die unter den europäischen und nordamerikanischen Mennoniten auf dem Gebiet der →Mission (vor allem in Indonesien) und allgemeiner Hilfswerkstätigkeit entstanden waren. 1936 hatte in Amsterdam und Elspeet eine →Mennonitische Weltkonferenz stattgefunden, die auch dazu beitrug, internationale mennonitische Kontakte zu stärken. Dennoch war die ADS während dieser Jahre ziemlich initiativlos, und die meisten niederländischen Mennoniten empfanden sich als freisinnig (liberal) ohne tiefe täuferische Identität.

Besonders schwere Jahre durchlebten die niederländischen Mennoniten unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg (1940 – 1945). Kirchen (z. B. in Rotterdam und →Wageningen) und Häuser wurden zerstört, Menschen in Konzentrationslager verschleppt und getötet. „Schätzungsweise waren etwa hundert Mennoniten unter den Gefangenen in deutschen Konzentrationslagern und verloren dort ihr Leben“ (Vugts-Verbeek und Hoekema, Die Mennoniten in den Niederlanden, 124).Unter den Mennoniten gab es Kollaborateure mit dem nationalsozialistischen Regime, Widerstandskämpfer und solche, die im Verborgenen verfolgte Juden und andere Menschen versteckten oder ihnen zur Flucht verhalfen. Unter den Mennoniten gab es auch einige Mitglieder jüdischer Herkunft. Das Gemeindeleben und die Beziehungen der Mennonitengemeinden untereinander waren eingeschränkt, schließlich wurde das Erscheinen des Zondagsbode 1942 eingestellt, die Universitäten und das Doopsgezinde Seminar in Amsterdam wurden praktisch geschlossen. Das Verhältnis zu den deutschen Mennoniten war gestört, und es dauerte nach dem Krieg lange, bis die Beziehungen sich in einem schwierigen Versöhnungsprozess wieder normalisierten. Das geschah im Kontext internationaler Zusammenarbeit, die vor allem vom →Mennonite Central Committee und ab 1951 der Europäischen Mennonitischen Mission (EMEK) organisiert wurden, in Begegnungen auf Vollversammlungen und Konsultation des Ökumenischen Rates der Kirchen, zu dessen Gründungsmitgliedern die niederländischen und deutschen Mennonitengemeinden zählten, auf Mennonitischen Weltkonferenzen und →Europäischen Regionalkonferenzen, schließlich auch im Austausch von Theologen und Historikern in der →Täuferforschung.

Starke Impulse zu historischer Arbeit und zur ökumenischen Öffnung der Mennonitengemeinden gingen besonders nach dem Zweiten Weltkrieg vom Theologischen Seminar in Amsterdam aus: von Nanne van der →Zijpp, Hendrik W. →Meihuizen, Irvin B. →Horst, Willem F. →Golterman, Johannes A. →Oosterbaan und Henk B. →Kossen. Auf die Initiative von Sjouke →Voolstra hin wurde 1974 der →Doopsgezinde Historische Kring gegründet, der seither die neue Reihe der Doopsgezinde Bijdragen herausbringt. Starke Impulse für die theologische Arbeit gingen auch von Frits →Kuiper aus, der zuletzt in der Gemeinde von Amsterdam tätig war und gelegentlich Vorlesungen am Theologischen Seminarium hielt. Er suchte das Gespräch mit Sozialisten und vor allem mit dem Judentum und bewegte sich im Umkreis der Theologie Karl →Barths. Diese Theologen fanden auch den Anschluss an die neueren theologischen Entwicklungen in Europa und an die Bemühungen der Historischen Friedenskirchen, die von Nordamerika aus das Friedenszeugnis unter den europäischen Mennoniten wiederbelebten und auf ökumenischen Konsultationen zur Sprache brachten (z. B. den →Puidoux Theological Conferences).

5. Neue Aussichten

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Mitgliederzahl in den niederländischen Mennonitengemeinden wieder, wie in anderen Denominationen auch, stark ab: von etwa 30.000 auf 10.000 Personen. Das hat die Gemeinden erneut in eine Krise gestürzt. Erst in den letzten Jahren scheint sich ein Umschwung anzubahnen. Dazu tragen neben internationalen Beziehungen, die in der Mennonitischen Weltkonferenz und der Hilfswerksarbeit entstanden sind, vor allem aber neue Formen der Gemeindearbeit und der Gestaltung der Gottesdienste bei, auch die Zusammenarbeit mit Organisationen wie Amnesty International, Eine-Welt-Läden und Friedensgruppen. Impulse gehen auch von feministischen Gruppen aus. Viele Gemeinden verstehen sich selbst als Friedensgemeinden und versuchen, das nach außen zu kommunizieren.

Die niederländische Mennoniten nehmen seit Anfang 1948 an der Arbeit des Raad van Kerken in Nederland teil. Eine Anzahl von Gemeinden hat sich mit den gleichfalls kleinen remonstrantischen Gemeinden vereinigt. Die →Remonstranten sind eine sehr offene und liberale Gemeinschaft, ein wenig mehr auf intellektuelle Rechenschaft des Glaubens orientiert als die stärker auf die Praxis ausgerichteten Mennoniten. Dennoch wird die Zusammenarbeit dadurch nicht beeinträchtigt.

Die Doopsgezinde Broederschap umfasst gegenwärtig 110 Gemeinden und etliche Kreise mit insgesamt ca. 7000 Mitgliedern, sie ist umgeben von Interessierten und Freunden (2016), über die ekklesiologische Position dieser Freunde wird jetzt intensiv in den Gemeinden nachgedacht.

Literatur (Auswahl)

E. I. T. Brussee-van der Zee, Broedershap en nationaal-socialisme, in: Doopsgezind Bijdragen NR 11, 1985, 118–129. - S. Groenveld, J. P. Jacobszoon und S. L. Verheus (Hg.) Wederdopers, Menisten, Doopsgezinden in Nederland 1530 – 1980, Zutphen 1980. - Alistair Hamilton, Sjouke Voolstra und Piet Visser (Hg.) From martyr to muppy. A historical introduction to cultural assimilation processes of a religious minority in the Netherlands: the Mennonites, Amsterdam 1984. - Alle Hoekema, Dutch Mennonite Mission in Indonesia, Elkhart, IN, 2001. - Ders., Holländische Mennoniten und deutsch-jüdische Flüchtlingskinder 1938–1945, in: Mennonitische Geschichtsblätter 2013, 55–76. - Alle G. Hoekema und Pieter Post, Frits Kuiper (1898–1974), Doopsgezind theoloog, Hilversum 2016. - Gerlof Homan, Nederlandse doopsgezinden in de Tweede Wereldoolog, in: Doopsgezinde Bijdragen NR 21, 1995, 165–197. - W. E. Keeney, Development of Dutch Anabaptist Thought and Practice 1539 – 1564, Nieuwkoop 1968. - W. J. Kühler, Geschiedenis der Nederlandsche Doopsgezinden in de zestiende eeuw, 2. Aufl. 1964. - Ders., Geschiedenis van de Doopsgezinden in Nederland II, 1600–1735, Haarlem 1940. - Ders., Geschiedenis van de Doopsgezinden in Nederland. Gemeentelijk leven 1650–1735, Haarlem 1950. - Albert F. Mellink, De wederdopers in de Noordelijke Nederlanden 1531–1544, 2. Aufl., Leeuwarden 1981. - P. van der Meulen, De wording der Algemeene Doopsgezinde Societeit, Wormerveer 1947. - Mary Susan Sprunger, Rich Mennonites, poor Mennonites: Economics and Theology in the Amsterdam Waterlander Congregation during the Golden Age, Urbana, Ill., 1993. - Dies., Waterlanders and the Dutch Golden Age: A case study on Mennonite involvement in seventeenth-century Dutch trade and industry as one of the earliest examples of socio-economic assimilation, in: Hamilton u. a. (Hg.), From matyr to muppy (Hg.), 133–148. - Piet Visser unter Mitwirkung von Mary Sprunger und Adriaan Plak, Spuren von Menno. Das Bild von Menno Simons und den niederländischen Mennisten im Wandel, Hamburg-Altona 1996. - Sjouke Voolstra, 'The Hymn to freedom': The redefinition of Dutch Mennonite identity in the Restoration and Romantic period (ca. 1810–1850), in: Hamilton u. a. (Hg.), From martyr to muppy, 187–202. - Annelies Verbeek, „Menniste Paus": Samuel Muller (1785 – 1875) en zijn netwerken, Hilversum 2005. - Annelies Vugts-Verbeek und Alle Hoekema, Die Mennoniten in den Niederlanden, in: Hanspeter Jecker und Alle G. Hoekema (Hg.), Glaube und Tradition in der Bewährungsprobe. Weltweite täuferisch-mennonitische Geschichte, Bd. 2: Europa, Schwarzenfeld 2014, 87–138. - Samme Zijlstra, Om de ware gemeente en de oude gronden. Geschiedenis van de dopersen in de Nederlanden 1531 – 1675, Hilversum 2000. - Nanne van der Zijpp, Geschiedenis der Doopsgezinden in Nederland, Arnhem 1952, Nachdr. 1980.

Zeitschriften

De Zondagsbode, 1–55, 1887 – 1942. - Algemeen Doopsgezind Weekblad, 1 – 60, Amsterdam 1945 – 2005. - Doopsgezind NL, Amsterdam 2006 ff. - Doopsgezind Jaarboekje 1902 – 1942; 1949 – 2016. - Doopsgezinde Bijdragen, oude reeks 1861 – 1919, nieuwe reeks, hg. von Doopsgezinde Historische Kring, Amsterdam 1975 ff. - Stemmen uit de Doopsgezinde Broederschap, 1–12, 1952–1963.

Homepage: www.doopsgezind.nl

Hans-Jürgen Goertz und Gabe Hoekema

 
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