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Jung-Stilling, Johann Heinrich
geb. am 12. September 1740 in Grund bei Hilchenbach im Siegerland, gest. am 2. April 1817 in Karlsruhe, Deutschland; Arzt, Kameralwissenschaftler, Volksschriftsteller.
Johann Heinrich Jung-Stilling wurde nach dem frühen Tod der Mutter (1742) von seinem Vater asketisch hart im Geiste des kirchlichen Pietismus erzogen. Nach den Elementarschulen in Grund und Allenbach besuchte er 1750–1755 die Lateinschule in Hilchenbach, wurde Ostern 1755 konfirmiert und im Mai desselben Jahres zum Lehrer in dem unweit gelegenen Lützel ernannt. Bis zum Weggang aus seiner Heimat 1762 scheiterte er in vier Dorfschullehrer- und zwei Hauslehrerstellen. Das Schneiderhandwerk auszuüben, das ihm der Vater beigebracht hatte, behagte ihm ebenso wenig, wie in der Landwirtschaft mitzuhelfen, so dass es 1762 zwischen Vater und Sohn zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung kam, in deren Folge der Sohn beschloss, ins bergische Land auszuwandern.
Ostern 1762 kam er nach Solingen, fand eine Stelle als Schneider, erfuhr ein Erweckungserlebnis und schloss einen Bund mit Gott, ganz zum Wohle Gottes und der Menschen zu wirken und sein Leben lang ein Handwerker zu bleiben, wenn es denn Gottes Wille sei. Nach einem abermals gescheiterten Versuch, als Hauslehrer zu arbeiten, nahm er in Radevormwald wieder eine Beschäftigung als Schneider an und zögerte, als ihm eine Stelle als Hauslehrer und Handlungsgehilfe bei dem Eisenwarenproduzenten und Landgutbesitzer Flender angeboten wurde. Erst nach intensivem Zureden pietistischer Freunde willigte er ein und durchlebte gut sechs Jahre kontinuierlichen Arbeitens in angenehmer familiärer Atmosphäre. Er las viel, lernte Französisch, Griechisch und Hebräisch und beschäftigte sich mit Werken der →Aufklärung, deren formal-logische Seite ihn faszinierte, die jedoch eine Leere in ihm hinterließen, weil sie alle kindlichen Empfindungen gegen Gott erstickten.
Jung-Stilling hat sich damit autodidaktisch auf ein universitäres Studium vorbereitet. Als ihm sein Dienstherr Flender 1770 vorschlug, Medizin zu studieren und den Doktorgrad zu erwerben, ging er bereitwillig darauf ein, ohne ausreichende finanzielle Mittel dafür zu besitzen. Er glaubt fest, das sei Gottes Wille, hatte er doch zwei Jahre zuvor von dem katholischen Geistlichen Molitor (1768) ein Manuskript mit Anweisungen zur Behandlung von Augenkranken zur Abschrift erhalten und versprochen, arme Kranke umsonst zu behandeln. Trotz schwieriger Situation, er war inzwischen mit der kranken Tochter des Fabrikanten Heyder aus Ronsdorf verlobt, machte er sich auf die Reise an die Universität Straßburg. In weniger als achtzehn Monaten (1770–1772) gelang es ihm, das Medizinstudium erfolgreich abzuschließen. Während dieser Zeit lernte er Goethe, Herder und Lenz kennen, beschäftigte sich mit Chemie und Metallurgie und hielt eine private philosophische Vorlesung. Unterbrochen wurde die Straßburger Zeit durch eine Reise nach Ronsdorf, um seine Verlobte zu heiraten (17. 6. 1770). Die schwierigen finanziellen Situationen wurden durch mehrere Kredite seines Schwiegervaters abgedeckt. Es gelang ihm erst dreißig Jahre später, diese Schulden zu tilgen.
Mai 1772 ließ er sich als Praktischer Arzt in Elberfeld nieder. Er glaubte sich am Ziel seiner ihm von Gott gesetzten Bestimmung, hatte aber Schwierigkeiten, Fuß zu fassen. Seine Praxis nahm nach anfänglichen Erfolgen Schaden. Jung-Stilling reagierte mit Flucht in andere Aktivitäten. Unter anderem schrieb er, aufgefordert von Goethe, den ersten Teil seiner Lebensgeschichte. 1773 begann er mit den Augenoperationen, die er zeitlebens fortsetzen und im Bedarfsfall kostenlos durchführen wird. Er hat ca. 2000 Staroperationen vorgenommen, und zwar mit der erstaunlichen Erfolgsquote von mehr als 85 %.
1778 erhielt er einen Ruf auf den Lehrstuhl für Kameralwissenschaften an die Hohe Schule nach Kaiserslautern. Dort starb 1781 seine Frau Christine. Ein knappes Jahr später heiratete er mit Selma von St. George seine zweite Frau, deren Tod er bereits 1790 zu beklagen hat. Danach heiratete er Elise, die Tochter des Marburger Theologieprofessors Coing, die wenige Tage vor ihm im Jahre 1817 sterben wird. Neben den 24 Wochenstunden Lehrverpflichtung schrieb er drei Romane, drei Lehrbücher und vier Jahrgänge einer monatlich erscheinenden Zeitschrift mit dem Titel Der Volkslehrer. 1784 wurde die Hohe Schule in die Universität Heidelberg integriert. 1787 erreichte ihn ein Ruf an die Universität Marburg. Neben der Vorlesungstätigkeit schrieb er vier weitere Lehrbücher, verfasste mehrere Romane, von denen das 1794–1796 erschienene Heimweh die weiteste Verbreitung fand, und brachte ab 1795 mit dem Grauen Mann eine periodische Volksschrift heraus, die er bis kurz vor seinem Tod (1816) weiterführte. Die Marburger Zeit war daneben durch eine umfangreiche Korrespondenz geprägt. Bis zu achthundert Briefe erreichen ihn jedes Jahr, die er sorgfältig auflistete und beantwortete. Leider wird er die meisten Briefe bei seiner erneuten Übersiedelung nach Heidelberg 1803 verbrennen. Jedes mal wenn ihm ein Abschnitt seines Lebens abgeschlossen erschien, verfasste er einen weiteren Abschnitt seiner Lebensgeschichte. Der letzte erschien nach Abschluss der Marburger Zeit 1804. Ein Fragment über sein Alter erschien posthum. Die Augenoperationen wurden, gelegentlich auch auf weiten Reisen, fortgesetzt.
1803 berief ihn der badische Großherzog als Berater in seine Dienste. Jung-Stilling war froh, die zu dieser Zeit ungute Situation an der Universität Marburg verlassen zu können und ließ sich zunächst in Heidelberg nieder. Um seine Tätigkeit als Berater des Kurfürsten besser ausüben zu können, zog er im Frühjahr 1807 nach Karlsruhe, wo er weiterhin besonders mit der Abfassung verschiedener Periodika schriftstellerisch tätig war (Der christliche Menschenfreund, 1803–1807; Taschenbuch für die Freunde des Christentums, 1805–1816; Des christlichen Menschenfreunds Biblische Erzählungen, 1808–1816).
Jung-Stilling starb am 2. April 1817 und wurde in der Karwoche 1817 auf dem Karlsruher Friedhof zu Grabe getragen. Er hat Zeit seines Lebens ein pietistisch geprägtes Christentum vertreten und gegen verschiedene aufklärerische Angriffe verteidigt. Der Vernunft gestand er allenfalls logisch ordnende, aber keine inhaltlich prägenden Einflüsse zu, auch wenn er sich stets bemühte, die Sache des Christentums als mit der Vernunft übereinstimmend zu erweisen. Er vertrat einen auf die Welt zugehenden und sie gestalten wollenden →Pietismus. Alle Menschen sollen ihr Streben nach Gottseligkeit verwirklichen können. Darin lag für ihn der wichtigste Aspekt, der allerdings zum Rechtfertigungsverständnis gelegentlich in Spannung tratt. Jedoch gebührt ihm das Verdienst, ein lebendiges, pietistisch geprägtes Christentum durch die schwere Zeit aufklärerischer Angriffe hindurchgeführt zu haben. Mit Recht gilt er daher als „Patriarch der Erweckung“.
Die Bindung des Christen an eine kirchliche Gemeinschaft war Jung-Stilling stets wichtig, weniger wichtig war ihm, an welche kirchliche Gemeinschaft. Er selbst war reformiert, pflegte jedoch Kontakte zu Katholiken, aber auch zu Vertretern von Freikirchen. Nach anfänglicher Skepsis entwickelte er sich zu einem glühenden Verehrer der Herrnhuter. Auch zu Mennoniten pflegte er brüderliche Beziehungen. 1785, als er noch Professor in Heidelberg war und unter anderem die Landwirtschaft zu seinem Fachgebiet gehörte, besuchte er David →Möllinger (1709–1786), „den Vater des pfälzischen Kleebaus“, in Monsheim und schrieb ihm enthusiastisch ins Stammbuch: „Freund Möllinger! Hier kann ich keine Verse machen; denn mein Herz ist zu voll von Dank gegen unsern Himmlischen Vater, zu voll von Wonne, um Reime zu denken; Möllinger und Stilling zween Brüder, die der Herr aus dem Staub erhob, sollen lauter Dank und Preis sein gegen den Schöpfer und Erhalter. Möllingers Bruder Dr. Johann Heinrich Jung, Churfürstlichen Hofrat und Professor in Heidelberg. Monsheim, den 2. Mai 1785.“ Zu Beginn seines Heimwehromans schilderte er das Beispiel eines für ihn vorbildlichen Pfarrers, der in Schwierigkeiten mit seiner kirchlichen Obrigkeit gerät, weil er die Beerdigung einer Mennonitin auf dem Gemeindefriedhof gestattet und selbst an der Beerdigung teilgenommen habe. In seinem Taschenbuch für Freunde des Christentums veröffentlichte er eine Serie mit Porträts bedeutender Männer, darunter im 11. Stück (1812) zwischen Johannes Calvin und Johann Arndt auch Menno Simons (gest. 1562). Er ließ sein Bild abdrucken, lobte den christlichen Charakter der Mennoniten und verteidigte sie gegen unberechtigte Angriffe. Von 1813–1816 brachte er seinen schwer erziehbaren Sohn Friedrich bei einem Sohn oder Neffen mit demselben Namen David Möllinger, ebenfalls Landwirt, in Pfeddersheim bei Worms unter. Er sei dort „brauchbar, thätig, grundehrlich und treu“ geworden. Jung-Stillings Lied Vater deines Geistes Wehen fand sich im Gesangbuch süddeutscher Mennoniten aus dem Jahre 1910.
Werke
Sämmtliche Schriften, Stuttgart 1835–1838. Nachdruck: Hildesheim, New York 1979. - Lebensgeschichte, hg. und mit Anmerkungen versehen von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1976. - Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Gerhard Schwinge, Gießen 2002.
Literatur
Die bis 1963 erschienene Sekundärliteratur ist verzeichnet bei Max Geiger, Aufklärung und Erweckung. Beiträge zur Erforschung Johann Heinrich Jung-Stillings und der Erweckungstheologie, Zürich 1963, 38–46. - Rainer Vinke, Jung-Stilling-Forschung seit 1963, in: Theologische Rundschau 48, 1983, 156–186 und 254–272. - Ders.,Jung-Stilling-Forschung von 1983–1990, in: Pietismus und Neuzeit 17, 1991, 178–228. - Ders., Jung-Stilling und die Aufklärung. Die polemischen Schriften J. H. Jung-Stillings gegen Friedrich Nicolai (1775/76). Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Bd. 129, Stuttgart 1987. - Otto Wilhelm Hahn, Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung. Sein Leben und literarisches Werk 1778–1787, Frankfurt/Main u. a. 1988. - Gerhard Merk, Jung-Stilling. Ein Umriß seines Lebens. Kreuztal 1989. - Otto Wilhelm Hahn, Johann Heinrich Jung-Stilling, Wuppertal und Zürich 1990. - Gerhard Schwinge, Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung. Eine literatur- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung seiner periodischen Schriften 1795–1816 und ihres Umfeldes. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 32, Göttingen 1994. - Martin Völkel, Jung-Stilling: Ein Heimweh muß doch seine Heimat haben. Annäherungen an Leben und Werk 1740–1817, Nordhausen 2008.
Die Primär- und Sekundärliteratur ist online aufgelistet bei Rainer Vinke, Jung-Stilling, in: http://www.bautz.de/bbkl/j/Jung_j_he.shtml. - Die Bibliografie wird von Dr. Erich Mertens ständig weiter geführt.
Rainer Vinke