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Pietismus

1. Zum Begriff „Pietismus“

Bis in die jüngste Zeit ist unter Pietismus jene religiöse Erneuerungsbewegung vor allem im kontinentaleuropäi­schen Protestantismus verstanden worden, die im späten 17. Jahrhundert entstand und im 18. Jahrhundert zu voller Blüte kam. Der Pietismus zielte auf eine Transformation des einzelnen Menschen durch Buße, Bekehrung und Wiedergeburt ab: erstens auf Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens, zweitens auf neue Formen persönlicher Frömmigkeit und gemeinschaftlichen Lebens und drittens in vielen Regionen auf durchgreifende Reformen in Theologie und Kirche.

In der Pietismusforschung hat allerdings schon vor einiger Zeit die Diskussion darüber eingesetzt, ob dieser abgesteckte Rahmen nicht sowohl zeitlich und räumlich, als auch inhaltlich erheblich weiter gefasst werden müsste. Dies hat dazu geführt, dass mittlerweile oft zwischen einem Pietismus im engeren Sinne, der weitgehend der obigen Definition entspricht, und einem Pietismus im weiteren Sinne unterschieden wird, der nicht nur wesentlich früher einsetzte (spätestens um 1600) und wesentlich länger andauerte (weit über das späte 18. Jahrhundert hinaus), sondern auch nicht länger eine nur europäische und eine ausschließlich protestantische Erscheinung genannt werden kann. Diesem breiteren Ansatz ist auch die von 1993 bis 2004 publizierte mehrbändige Geschichte des Pietismus verpflichtet, die für die Forschung der nächsten Jahre ein zentraler Bezugspunkt sein wird.

Welchem Ansatz in der Pietismusforschung künftig der Vorzug zu geben ist, wird weiterhin kontrovers diskutiert. Begrüßenswert ist der breitere Ansatz insofern, als er den Pietismus nicht als eine isolierte Bewegung versteht, sondern als eine Bewegung im Kontext einer Abfolge unterschiedlich akzentuierter Säkularisierungsschübe und religiöser Aufbruchs- und Erneuerungsbewegungen. Damit rückten beispielsweise Bezüge zu Reformation und frühem Täufertum des 16. und frühen 17. Jahrhunderts ins Blickfeld wie etwa auch zu den Erweckungsbewegungen des 19. und dem Evangelikalismus des 20. Jahrhunderts. Das wäre zwar nicht völlig neu, aber durch die stärkere Akzentuierung auf Gemeinsames und Verbindendes ergeben sich neue Schwerpunkte in der Forschung und Epochen übergreifende Vergleichsmöglichkeiten.

2. Wichtigste Erscheinungsformen des Pietismus

Herkömmlicherweise wurden beim Pietismus sechs Typen unterschieden, die sich durch ihr historisches, geographisches und theologisch-kirchliches Profil voneinander abhoben. Jeder Typus weist Berührungspunkte mit täuferisch-mennonitischen Bewegungen auf (vgl. auch Ernst Crous, Art. Pietismus, ebenso Cornelius Krahn und Cornelius Dyck, Art. Pietism).

a) Der reformierte Pietismus entfaltete sich seit den 1660er Jahren in Nordwestdeutschland. Er knüpfte an die Frömmigkeits- und Kirchenreform an, die sich zuvor in der niederländisch-calvinistischen „Nadere Reformatie“ entwickelt hatte und auf einen konsequenteren christlichen Lebensstil der „Heiligung“ hinzielte. Dabei spielten auch Einflüsse aus dem frühen englischen Puritanismus eine wichtige Rolle. Für eine separatistische Variante des reformierten Pietismus ist Jean de Labadie (1610–1674) eine zentrale Figur geworden. Die im Rahmen der Kirche verbleibende Form pietistischer Erneuerung hat in Theodor Undereyck (1635–1693) ihre Leitfigur. Großen und nachhaltigen Einfluss übte später vor allem Gerhard →Tersteegen (1697–1769) aus. Zu Bezügen mit täuferisch-mennonitischen Kirchen kam es besonders dort, wo es direkte Nachbarschaften zu Reformierten gab, etwa in der Schweiz und in der Pfalz, aber vor allem auch im niederländisch-niederdeutschen Raum, wo die wechselseitigen Kontakte und Prägungen im Umfeld von →Spiritualismus und Schwenckfeldertum, Kollegiantenbewegung, Dompelaars und →Quäkern noch ungleich vielfältiger und offener waren.

b) Der frühe lutherische Pietismus ist maßgeblich geprägt von Philipp Jakob Spener (1635–1705). Dessen 1675 publizierte Programmschrift Pia Desideria enthält in einem ersten Teil eine umfassende Kirchen- und Zeitkritik, entfaltet in einem zweiten Teil eine biblisch begründete Hoffnung auf Besserung der Kirche, um dann in einem dritten Teil konkrete Reformvorschläge zu formulieren. Diese umfassen im Wesentlichen Vorschläge zur Intensivierung der Beschäftigung mit der Bibel (einzeln und in Kleingruppen, so genannten „Konventikeln“), zur Stärkung der Laien in den Gemeinden, zur Konkretisierung der „praxis pietiatis“ – hauptsächlich in der Form gelebter Nächstenliebe, sowie zur Reform des Theologiestudiums und der Verkündigung. Die weit über das Luthertum hinaus reichende und nachhaltige Resonanz dieser Schrift hat manche in Spener den eigentlichen „Vater des Pietismus“ sehen lassen. Alle nachfolgend noch zu nennenden Formen des Pietismus mit ihren mannigfachen Bezügen auch zu täuferisch-mennonitischen Gruppen sind massgeblich von Spener geprägt.

c) Der Hallesche Pietismus wurde von der wohl einflussreichsten Figur der zweiten Generation dieser Bewegung, August Hermann Francke (1663–1727), begründet. Durch seine autobiographisch nachvollziehbare Betonung von Bekehrung und Wiedergeburt und einem darauf aufbauenden Leben der Heiligung, durch sein Engagement für außergewöhnlich innovative und nachhaltige diakonische, missionarische, pädagogische und publizistische Projekte, sowie durch sein Organisationstalent, seine enorme Schaffenskraft und sein internationales Kommunikationsnetz entfalteten Francke und seine zahlreich mitarbeitenden Gesinnungsfreunde zuerst von Leipzig, seit 1692 von Halle aus eine kaum zu überschätzende europaweite Wirksamkeit.

d) Der Württembergische Pietismus zeichnet sich durch eine ausgeprägte volkskirchliche Verwurzelung und eine starke Betonung der Beschäftigung mit der Bibel in Auslegung, Verkündigung und Seelsorge aus. Zentrale Figuren sind Johann Albrecht Bengel (1687–1752) und Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782). Ihr Einfluss auf täuferisch-mennonitische Gemeinden ist vor allem für den süddeutschen Raum von Bedeutung.

e) Die Herrnhuter Brüdergemeine verdankt ihre Existenz maßgeblich der Schlüsselfigur der dritten Pietismus-Generation, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760). Seit den 1720er Jahren entfaltete diese Bewegung mit ihrer Betonung von Gemeinschaft, gefühlsbetonter Jesus-Frömmigkeit und überkonfessioneller Weite eine immer stärker werdende Anziehungskraft. Die Trinität Gottes bildete dabei das Leitbild für die Gemeinschaft aller Christen, für die gelten sollte: in Liebe füreinander, in Achtung voreinander, im Gespräch miteinander, in gleichberechtigter Partnerschaft untereinander. Mission, ökumenische Weite und zahlreiche internationale Kontakte ließen die Herrnhuter Brüdergemeine weltweit zu einer prägenden Kraft werden. Für täuferisch-mennonitische Kreise wurde dieser Bezug besonders durch Johannes Deknatel (1698–1759), Pastor der Doopsgezinde-Gemeinde in Amsterdam und Mitbegründer des dortigen Seminars, sowie durch den pfälzischen Mennonitenprediger Peter Weber (1731–1781) hergestellt.

f) Der radikale Pietismus ist eine mittlerweile weitgehend anerkannte Sammelbezeichnung für eine Vielzahl unterschiedlichster Bewegungen und Einzelpersonen. Bei manchen von ihnen flossen Prägungen verschiedener Art ein, die aus latent vorhandenen mystisch-spiritualistischen Tendenzen, wie sie etwa im Gefolge eines Jakob Böhme (1575–1624) im Kreis der Jane Leade (1624–1704) und der von ihr 1694 gegründeten „Philadelphian Society“ in England oder um Johann Georg Gichtel (1638–1710) in Amsterdam sichtbar wurden. In der Regel motiviert von einer starken eschatologisch-chiliastischen Naherwartung, lassen sich alle Erscheinungsformen des radikalen Pietismus durch eine je eigene Mischung von drei Kennzeichen charakterisieren: gesellschaftlichen Nonkonformismus, kirchlichen Separatismus und theologische Heterodoxie. Nun können einzelne der drei genannten Aspekte zwar durchaus auch bei den übrigen Pietismus-Formen beobachtet werden, allerdings nie in dem Ausmaß wie bei den radikaleren Spielarten. Tatsache bleibt damit doch, dass die Typologisierung notwendigerweise eine gewisse Unschärfe aufweist und Übergangsformen durchaus nicht selten sind. Aufgrund ihrer regional bedeutsamen Bezüge zu Geschichte und Theologie einzelner täuferisch-mennonitischer Bewegungen sei nachfolgend eine Reihe sehr unterschiedlicher Persönlichkeiten und Gruppierungen erwähnt, die alle dem radikalen Pietismus zuzuzählen sind. Hinzuweisen gilt es dabei insbesondere auf das Ehepaar Johann Wilhelm Petersen (1649–1726) und Johanna Eleonora von Merlau (1644–1724), deren stark endzeitlich-chiliastisch geprägter Separatismus, deren Annahme einer revelatio continua sowie deren Lehre einer „Wiederbringung aller Dinge“ (apokatastasis pantoon) auf dem Wege einer ausgedehnten literarischen Tätigkeit weite Verbreitung fanden. Sehr einflussreich war auch der Kirchenhistoriker Gottfried Arnold (1666–1714), der die kirchlichen Zustände seiner eigenen sowie früherer Zeiten im Spiegel des Urchristentums einer radikalen Kritik unterzog. Seine beiden Hauptwerke Die erste Liebe (1696) und Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699 f.) deuteten die Geschichte der Großkirchen primär als Verfallsgeschichte, sahen hingegen in vielen der von diesen als „Ketzer“ verurteilten Christen – und dazu zählten explizit auch die Täufer – weit glaubwürdigere und integrere Nachfolger Jesu als in deren Richtern. Damit stellte Arnold die gängige Historiographie völlig auf den Kopf. Eine weitere bedeutsame Figur ist ferner der gelernte Jurist Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1669–1721). Die charismatische Ausstrahlung dieses weit herumreisenden Predigers und Evangelisten übte einen enormen Einfluss aus und stand am Anfang manchen lokalen radikalpietistischen Aufbruchs. Dies gilt in besonderer Weise für die wohl bedeutendste kirchliche Neugründung im radikalpietistischen Raum, den Schwarzenauer Täufern (später →Church of the Brethren) im Jahre 1708. Als zweite wichtige Gruppierung sei abschließend die Bewegung der Inspirierten genannt, die seit 1714 prophetisch-enthusiastische Impulse der hugenottischen Kamisarden in Frankreich über England nach Deutschland vermittelte. Beide Gruppen entfalteten von ihren späteren Zufluchtsorten in den Grafschaften Wittgenstein und Isenburg-Büdingen in der Wetterau her eine intensive missionarische und literarische Tätigkeit, die zu europaweiten Begegnungen und Einflussnahmen führte. Bewegend und bezeichnend sind beispielsweise die Lettres Missives (1717), der Bericht des Waadtländer Radikalpietisten Nicolas Samuel de Treytorrens, welcher aus dem wittgensteinischen Asyl und mit niederländisch-mennonitischer Unterstützung nach Bern und Italien reiste, um auf Galeeren verurteilte Berner Täufer freizukriegen, und der in seinem Text sehr kritisch über Obrigkeit, Kirche und Toleranz reflektierte.

3. Zentrale Anliegen des Pietismus

Ausgangspunkt des pietistischen Aufbruchs war einerseits das Leiden vieler Menschen an einem in ihren Augen zunehmend unerträglichen Zustand in Kirche und Gesellschaft. Viele Jahrzehnte andauernde so genannte „Glaubenskriege“ brachten vielen Generationen europaweit Tod und Verwüstung und stürzten weite Teile der Bevölkerung wiederholt in Not und Elend. Eine zunehmende Zahl leidender Menschen sah sich dabei in ihrer Not von Kirche und Theologie im Stich gelassen. Mehr als an pastoral-seelsorgerlicher Hilfestellung zugunsten ihrer Mitglieder schienen die Kirchenleitungen in der Optik dieser Menschen an Definition und Wahrung theologischer Rechtgläubigkeit interessiert zu sein sowie an eigener Macht und Ehre. Anderseits waren diese Menschen aber in wachsendem Masse von der Aussicht und Überzeugung erfüllt, dass dieser Gang der Dinge durchaus nicht gottgewollt sei, sondern dass aufgrund des Bibelwortes durchaus Alternativen und Möglichkeiten einer Verbesserung vorhanden seien. Diese „Hoffnung auf bessere Zeiten“ ließ die Differenz zur leidvollen Gegenwart zwar vorerst nur umso schmerzhafter bewusst werden, verlieh jedoch auch die Kraft, sich diesem Gott, der Neues schaffen will, ganz zur Verfügung zu stellen. Getragen wurde der pietistische Aufbruch demnach von Männern und Frauen, die im Duktus von Martin Luther „mit Ernst Christen sein wollten“ und die der Pietismusspezialist Hartmut Lehmann als „dezidiert Fromme“ bezeichnet.

Um so engagierter setzte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der Pietismus ein: Angesichts der Engführungen und Defizite des auf die Reformation folgenden Zeitalters des Konfessionalismus und der Orthodoxie (ca. 1550 – 1650) mit all den vielen Kriegen und den schier endlosen Lehrstreitigkeiten suchte der Pietismus – fast gleichzeitig mit der →Aufklärung und teils mit ähnlichen Anliegen – nach neuen Wegen. Diese Suche nach neuen Wegen wies eine Reihe von gemeinsamen Akzentsetzungen auf, welche allen genannten Formen des Pietismus eigen sind, auch wenn sie in jeweils recht unterschiedlicher Intensität und Gewichtung auftreten mögen.

Erstens betonte der Pietismus die Zentralität der Bibel für Lehre und Leben. Zweitens waren ihm Bekehrung und Wiedergeburt aufgrund einer persönlichen Gottesbegegnung unverzichtbare Elemente für ein Leben in der Nachfolge Jesu. Drittens lag ihm an einer umfassenden Erneuerung des täglichen Lebens (Orthopraxis), wobei der „Heiligung“ als Ausdruck der auf die „Wiedergeburt“ folgenden Transformation des Lebens nach biblischen Maßstäben ein Hauptgewicht zukam und sich nicht selten als sozial-diakonisches Engagement in einer breiteren Öffentlichkeit manifestierte. Viertens spielte sowohl für die Bekehrung als auch die Heiligung der Aspekt der persönlichen Erfahrung und des individuellen Erlebens eine wichtige Rolle. Fünftens betonte der Pietismus bei allem Gewicht, den er dem einzelnen Glaubenden beimaß, die Wichtigkeit der Gemeinschaft als Ort der Ermutigung und als Kernzelle der Erneuerung. Sechstens ist die (Wieder-)Entdeckung des Heiligen Geistes als erneuernde und wegweisende Kraft ein wesentliches Kennzeichen des Pietismus. Siebtens bildete der Wunsch nach einer Überwindung konfessioneller Polemik und das Entstehen neuer Formen konfessionsübergreifender Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern ebenfalls ein gemeinsames Anliegen des Pietismus, auch wenn gerade dieses Anliegen manchenorts eher zaghaft als beherzt vertreten wurde.

Neben Gemeinsamkeiten, welche die verschiedenen Erscheinungsformen des Pietismus kennzeichnen, gibt es aber auch eine Reihe von Themen, die innerhalb des Pietismus teils höchst kontrovers diskutiert und praktiziert wurden. Dazu gehört erstens maßgeblich die Frage nach dem Verhältnis von engagierter Kleingruppe und institutioneller Gesamtkirche. Zweitens ist es die Frage nach dem Verhältnis des einzelnen Christen bzw. der Kirche zu Obrigkeit und Gesellschaft und damit die Frage nach dem Stellenwert von Integration und Kooperation, von Separation, Widerstand und Verweigerung. Damit verbunden war im Falle auftretender Schwierigkeiten drittens immer auch die Frage nach dem Gehen oder Bleiben. Es überrascht nicht, dass nicht nur, aber vor allem radikal-pietistische Gruppen über kurz oder lang nur noch in Übersee die Möglichkeit sahen, ihre Überzeugungen zu praktizieren. Parallel und mit direktem Bezug dazu erfolgte die Debatte über eine Reihe von stärker theologischen Themen, etwa dem Verhältnis von Gnade und Gericht oder der Frage, was persönlich, kirchlich und gesellschaftlich „schon jetzt“ bzw. was hier auf Erden „noch nicht“ realisierbar sei. Aber auch über das Verhältnis zwischen „Ringen um Wahrheit“ und „Ringen um Einheit“, sowie über das Verhältnis von Schriftbezug und Geisteswirken wurde innerhalb des pietistischen Aufbruchs bisweilen heftig diskutiert.

Je nachdem, wie die Akzente in diesen Diskussionen gesetzt wurden, traten dabei Tendenzen zutage, die von den einen als Erweis wahren Glaubens, von andern hingegen als Gefährdungen wahrgenommen und gedeutet wurden. Letztere sprachen dann beim Pietismus von einer Neigung zu Verinnerlichung, Subjektivierung und Individualisierung des Glaubens, von einer Überbetonung einzelner Formen und Abläufe, von Werkgerechtigkeit, von Weltflucht und Rückzug ins fromme Abseits als „Stille im Lande“, oder auch von einer bedauernswerten Preisgabe der theologischen Auseinandersetzung auf akademischem Niveau.

Aufgrund dieser hier nur kurz umrissenen Akzente vermag es nicht zu überraschen, dass schon zeitgenössischen Beobachtern zahlreiche Parallelen zum älteren Täufertum auffielen. Die Bestimmung des Verhältnisses von Täufertum und Pietismus ist dementsprechend ein seit Langem diskutiertes, aber bis heute noch längst nicht geklärtes Thema.

4. Das Verhältnis von Pietismus und Täufertum in der Geschichtsschreibung

Bereits in der Frühzeit des Pietismus ist vielen zeitgenössischen Beobachtern aufgefallen, dass Täufertum und Pietismus zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen. Für eine Reihe von reformierten und lutherischen Gegnern des Pietismus stand die Kontinuität zwischen Täufertum und Pietismus außer Zweifel und war ein Grund, diesen zu bekämpfen. Typisches Beispiel dafür ist die polemische Schrift des lutherischen Pfarrers Johann Friedrich Corvinus (1648–1721) mit dem programmatischen Titel Anabaptisticum et Enthusiastcum Pantheon Und Geistliches Rüst-Hausz Wider die Alten Quäcker Und Neuen Frey-Geister (1702). Die Mehrheit der Pietisten und ihnen wohlgesonnener Autoren setzte sich gegen diese Gleichsetzung und Verurteilung zur Wehr und betonte demgegenüber die grundlegende Verschiedenheit beider Bewegungen. Als Illustration mögen hier Schriften des reformierten Berner Pfarrers Georg Thormann (1655–1708), namentlich dessen Probierstein des Täufertums (1693), oder der umfangreiche Traktat Gespräche zwischen einem Pietisten und einem Wiedertäuffer (1722) des Baslers Johann Jacob Wolleb dienen. Andererseits gab es um 1700 sowohl täuferische als auch pietistische (vor allem radikal-pietistische) Stimmen, die diese Gemeinsamkeiten ebenfalls bezeugten, sie nun allerdings positiv bewerteten und als sich gegenseitig befruchtend einstuften. Hier sei etwa an Gottfried Arnolds Erste Liebe sowie seine Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie erinnert, aber auch an den täuferischen Sammelband Güldene Aepffel in Silbernn Schalen (1702). Andererseits gab es auch im Täufertum Stimmen, die sich – wie etwa Jakob →Amman – vom aufkommenden Pietismus, zumal in seinen gemäßigten Formen, distanzierten und ihm ungute Kompromissbereitschaft und Leidensscheu vorwarfen.

Erneut intensiver diskutiert wurde das Verhältnis von Täufertum und Pietismus erst wieder in der Pietismus-Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Max Goebel (1849–1860) nannte dabei den Pietismus den „Enkel des Täufertums“. Albrecht Ritschl (1880–1886) bezeichnete ihn in seinem epochalen Werk zur Geschichte des Pietismus bisweilen als „abgeschwächtes Täufertum“, wollte infolge mangelhafter Quellenlage allerdings auf weitergehende Verhältnisbestimmungen verzichten. Im Gegensatz zu Goebel stand Ritschl dem Pietismus allerdings ausgesprochen kritisch gegenüber. Er schrieb ihm einen Hang zum individualistischen „Heilsegoismus“, zu perfektionistischer Gesetzlichkeit, geistlicher Überheblichkeit und gesellschaftlicher Separation zu.

Diese kritische Linie Ritschls wurde ein halbes Jahrhundert später seitens der Täuferforschung mit teils ähnlichen Argumenten, aber aus anderen Gründen aufgegriffen. Auch Robert →Friedmann sah in seinem weitverbreiteten und einflussreichen Werk Mennonite Piety Through the Centuries (1949) viele wenigstens vordergründige Ähnlichkeiten zwischen Pietismus und Täufertum. Aber seiner Meinung nach verfolgten die beiden Bewegungen durchaus gegensätzliche Anliegen. Wo es dem Täufertum um das Zeugnis des angebrochenen Gottesreiches ging und um radikale und kostspielige Jesusnachfolge in Gemeinschaft und Gehorsam, Nonkonformismus und Leiden, da konzentriere sich der Pietismus auf individuelle Erfahrung der Gnade, auf persönliche Wiedergeburt und den Rückzug in fromm-süßliche Innerlichkeit. Für Friedmann ist pietistischer Einfluss maßgeblich Schuld daran, dass die Mennonitengemeinden der Folgezeit die seiner Meinung nach guten täuferischen Impulse der Anfänge verloren hätten und aus genossenschaftlich-widerständischen Avantgardisten angepasst-harmlose Stille im Lande geworden seien. Trotz seiner negativen Einschätzung des Pietismus bleibt Friedmanns Buch die umfassendste und wohl kenntnisreichste Darstellung täuferisch-mennonitischer Spiritualität des 17. und 18. Jahrhunderts.

Im Umfeld der Wiederentdeckung der „Anabaptist Vision“ durch Harold S. →Bender und die nordamerikanischen Mennoniten in den 1940er Jahren war dieser Sicht von Täufertum und Pietismus mennonitischerseits lange Zeit kaum widersprochen worden. Basierend auf Friedmann, griff Ernst →Crous 1952 die Frage nach dem Verhältnis von Täufertum und Pietismus in einem Aufsatz erneut auf, weitete sie nun allerdings bis ins 20. Jahrhundert aus. Er beschränkte sich dabei weitgehend auf eine bloße Auflistung von regionalen und personellen Berührungspunkten und Querverbindungen. Zwar hat eine Intensivierung sowohl der Täufer- als auch der Pietismusforschung mittlerweile ein wesentlich differenzierteres und komplexeres Bild beider Bewegungen zutage gefördert. Aber eine über Goebel und Ritschl sowie über Friedmann wesentlich hinausreichende neue Verhältnisbestimmung ist lange Zeit nicht erfolgt.

Wenig überraschend kamen neue Impulse vor allem aus einer Reihe detaillierter Regionalstudien über Gegenden, in denen gleichzeitig sowohl Gruppierungen des älteren Täufertums als auch des pietistischen Neuaufbruchs präsent waren. Eine solche gleichzeitige Präsenz beider Bewegungen gab es um 1700 vor allem in den Niederlanden, am Niederrhein in Krefeld und Neuwied, sodann im Grossraum Hamburg, ferner in der Pfalz und im Kraichgau und schließlich in der protestantischen Eidgenossenschaft, vor allem im Bernbiet. Es ist bezeichnend, dass es kirchen- und sozialgeschichtliche Spezialstudien aus diesen Gebieten waren (z. B. Rudolf Dellsperger 1984, Diether Götz Lichdi 1988, Thomas Hanimann 1990, Wolfgang Froese 1995, Hanspeter Jecker 1998, Michael Driedger 2001 f. etc.), welche auf die mannigfachen Berührungspunkte, Einflüsse und Interdependenzen zwischen Täufertum und Pietismus hinwiesen und das Desiderat einer eingehenden Analyse des Verhältnisses beider Bewegungen zueinander formulierten. Dieses Postulat wurde von der neueren Pietismusforschung (Johannes Wallmann, Hans Schneider, Hartmut Lehmann etc.) regelmäßig wiederholt, fand aber vorerst wenig Gehör.

Am intensivsten wurde das Thema im Rahmen neuerer Forschungen zu den Anfängen der Schwarzenauer Täufer (Church of the Brethren) diskutiert. Die prägende Figur dieser Diskussion in den letzten Jahrzehnten war Donald →Durnbaugh. In seinen vielen Publikationen zur Geschichte der Schwarzenauer Täufer sah er einerseits die Verwurzelung der neuen Bewegung eindeutig im radikalen Pietismus, anderseits aber auch deren Bruch mit einzelnen dieser Prägungen und eine bewusste Hinwendung zum Täufertum: „In a word, the Brethren originally came out of radical Pietism, but they later came out of radical Pietism and accepted Anabaptism“ (Donald Durnbaugh, Brehren Beginnings, 64). In dieser starken Zuordnung der Schwarzenauer Täufer zum Täufertum vertrat Durnbaugh eine etwas pointiertere Position als manche älteren Autoren, welche die Einflüsse aus dem radikalen Pietismus für ausschlaggebender hielten oder in der Brüder-Kirche ein ungebrochenes Durchhalten einer kreativen Spannung zwischen täuferischen und radikal-pietistischen Elementen sehen wollten. Unbestritten ist aber letztlich, dass das Spezifische der Schwarzenauer in einer einzigartig engen Verbindung von täuferischen und radikal-pietistischen Elementen zu sehen ist. Dies belegt insbesondere auch die mit Abstand umfassendste neue Darstellung von Marcus Meier (Die Schwarzenauer Neutäufer, 2009), die solche Bezüge zwischen Täufertum und radikalem Pietismus sowohl geographisch und prosopographisch als auch literarisch und theologisch sehr nuanciert nachweist.

Ein weiteres, aber erstaunlicherweise erst wenig unter diesem Blickwinkel erforschtes Beispiel für die Beziehung von Täufertum und Pietismus ist ein etwas weiter zurückreichendes Ereignis: Die Entstehung der amischen Täufer im Jahre 1693 und die damit erfolgende Zweiteilung des gesamten schweizerisch-süddeutsch-elsässischen Täufertums (→Amische). Entgegen der weit verbreiteten Annahme eines im Gefolge der Schleitheimer Artikel (→Brüderliche Vereinigung, →Bekenntnisse, →Absonderung) vollständig separiert und zurückgezogen lebenden Täufertums in diesen Regionen erfreuten sich etliche täuferische Gemeinden trotz →Verfolgung eines ungeahnten Zuwachses. Außenstehende Personen aus proto- und frühpietistischem Milieu interessierten sich für Lehre und Leben dieser Täufer, kamen zum Glauben und schlossen sich deren Gemeinden an. Diese Begegnungen riefen nach neuen Standortbestimmungen im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel in Bezug auf traditionelle täuferische Positionen in Theologie, Ethik und Gemeindepraxis. Eine rigidere, exklusivere und separatistischere Linie formierte sich zur Gemeinschaft der Amischen und trennte sich fortan von jenen Täuferinnen und Täufern, die offener für Einflüsse und Kontakte zu geistesverwandten Frommen aus anderen Kirchen waren.

Als letztes Beispiel für regionale Studien, welche das Verhältnis von Täufertum und Pietismus in letzter Zeit neu thematisiert haben, sei eine Reihe von Untersuchungen zur Kirchen- und Sozialgeschichte Hamburgs genannt, die vor allem im Umfeld des 400jährigen Jubiläums der dortigen Mennonitengemeinde entstanden sind (Michael Driedger, Dennis Slabaugh, Hans-Jürgen Goertz).

5. Ausblick

Noch ist es verfrüht, umfassende Schlussfolgerungen aus den eben erst begonnenen Detailstudien zur Frage des Verhältnisses von Täufertum und Pietismus zu ziehen. Sicher ist aber, dass die neuere Forschung sowohl für das Täufertum als auch für den Pietismus ein viel bunteres, dynamischeres und differenzierteres Bild mit einer ungleich größeren theologischen und regionalen Vielfalt und Bandbreite erarbeitet hat, als dies noch vor einigen Jahrzehnten für möglich gehalten wurde; und dies, obwohl wichtige Quellenkategorien wie Lieder- und Gebetssammlungen weiterhin auf eine eingehende Analyse warten (→Gemeindegesang und Gesangbücher).

Diese differenzierteren Sichtweisen ermöglichen nicht nur ein deutlicheres Heraustreten der Differenzen und Spannungen zwischen Täufertum und Pietismus, vielmehr eröffnen sie auch Zugänge zu bisher unbeachteten oder ausgeblendeten Gemeinsamkeiten. Mit Recht weist darum John Roth gegenüber Robert Friedmann darauf hin, dass „die Sprache der Gnade, der Ruf nach persönlicher Frömmigkeit, das innere Erleben des Gläubigen ein organischer, notwendiger Teil der täuferisch-mennonitischen Tradition sind und nicht irgendeine Art fremden Einflusses darstellen“ (John Roth, Pietismus und Täufertum – ein schwieriges Verhältnis, 90). Auf der anderen Seite muss festgehalten werden, dass es auch innerhalb des Pietismus durchaus Stimmen und Initiativen gab, die sich nicht einfach in fromme Innerlichkeit zurückzogen, sondern die deutlicher als manche täuferischen Gruppen innovative Modelle einer nachhaltigen und öffentlichkeitsrelevanten Glaubenspraxis lebten und durchaus bereit waren, dafür einen hohen Preis zu zahlen.

Die neue Forschung hat sich damit erfreulicherweise von einem idealtypisch-statischen Bild eines Täufertums der Anfangszeit weitgehend verabschiedet, für dessen angeblichen oder tatsächlichen Niedergang spätere Einflüsse aus Pietismus oder Aufklärung verantwortlich gemacht werden. Wenn aber Veränderung und Transformation ein unvermeidlicher und notwendiger Teil eines jeden historischen Prozesses ist, dann wird künftig noch vertieft zu fragen sein, wo und inwiefern die Begegnung von täuferisch-mennonitischen Gruppen und Einzelpersonen mit pietistischen (bzw. aufklärerischen) Positionen zu einer Stärkung bzw. sogar einer Neubelebung von Bisherigem und wo es zu einem Wandel mit neuen Formen, Inhalten und Akzentsetzungen führte und wie diese je spezifische Mischung von Kontinuität und Wandel zu verstehen und zu interpretieren ist.

Dabei wird in besonderer Weise zu beachten sein, dass der regional unterschiedliche Einfluss pietistischer Frömmigkeit auf täuferisch-mennonitische Gruppen für deren europaweiten Zusammenhalt oft erschwerend war. Vor allem die Weiterentwicklung spätpietistischer Positionen in den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts und deren höchst kontroverse Resonanz und Akzeptanz in mennonitischen Kreisen haben den Prozess innermennonitischer Annäherung bis weit ins 20. Jahrhundert oft belastet.

Noch steht die Täuferforschung weitgehend am Anfang der Aufarbeitung und Interpretation solcher historischer, kirchlich-theologischer und sozialer Transformationsprozesse. Das Studium des Verhältnisses von Täufertum und Pietismus verspricht hier weiterhin spannende Einsichten in Mechanismen und Dynamiken, aber auch in Chancen und Gefährdungen solcher Prozesse zu vermitteln, bei denen es – auch im Kontext der Frage von →Akkulturation – um das Finden einer guten Mischung von Kontinuität und Wandel, von Treue zur eigenen Tradition und Offenheit für Neues geht.

Bibliografie (Auswahl)

Quellen

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Literatur

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Hanspeter Jecker

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