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Tersteegen, Gerhard
geb. 25. November am 1697 in Moers, gest. am 3. April 1769 in Mülheim/Ruhr, Deutschland; pietistischer Laienprediger und Seelsorger reformierter Konfession, mystischer Schriftsteller und Liederdichter.
Auf dem Gymnasium seiner Vaterstadt geschult, musste Gerhard Tersteegen nach dem Tod seines Vaters anstatt eines Universitätsstudiums eine vierjährige Kaufmannslehre bei seinem Schwager Matthias Brink in Mülheim/R. antreten, lehnte aber den weltlichen Beruf eines Kaufmanns für sich selbst ab. Von Anhängern des hier verbreiteten, z. T. kirchenkritischen Pietismus erweckt, begann er in selbsterwählter Einsiedelei und Askese ein Leben in der „Nachfolge des armen Lebens Jesu“, das von einem energischen Selbststudium unterschiedlicher mystischer und erbaulicher Schriften begleitet war. Aus der religiösen Krise, einer fünfjährigen „Finsternis“, die er als „Probezeit“ ansah, befreite ihn am Gründonnerstag 1724 die entschlossene Übereignung seines Leben an Jesus, den Erlöser und „Blutbräutigam“ (Ex 4,2). Von da an hielt er sich zu den mit der reformierten Stadtgemeinde konkurrierenden Versammlungen seines geistlichen Freundes, des ohne Amt gebliebenen Kandidaten der Theologie Wilhelm Hoffmann (1685–1746), und übernahm deren Leitung seit ca. 1730. Seine Übersetzungen und Bearbeitungen fremdsprachlicher Erbauungsschriften, eigene gesammelte Abhandlungen (Weg der Wahrheit, 1734, 4. Aufl., 1768) und seine Gedichte (Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen, 1729; Aufl., 1769; 1969) stellte er ebenso wie seine Korrespondenz (Geistliche und erbauliche Briefe über das inwendige Leben, 1773, 2. Aufl., 1798/99, Neuausgabe 2008) in den Dienst der Erweckung im Bergischen Land, am Niederrhein und in Holland. Den Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit erreichte Tersteegen zwischen 1750 und 1760 mit seinen „Erweckungs-Reden“, eindringlichen Gnaden-, Bekehrungs- und Heiligungspredigten, in denen er keinerlei Sonderlehren, sondern „nichts als Wahrheit nach dem Evangelio“ vortrug und die Mystik zurücktreten ließ (Geistliche Brosamen, 1769–1773, Neuausgabe 1979). Tersteegen erklärte „die mystische Theologie“ für gleichbedeutend mit der „Herzens-Gottseligkeit“, die sich auf die Versöhnung mit Gott gründet, in der (durch Bekehrung und fortwährendes Herzensgebet geübten) Gegenwart des „nahen“ Christus in der Seele lebendig bleibt und fortschreitend der Heiligung teilhaftig werden darf. In seinem Testament (1769) bekannte er sich zu den Grundlagen seiner reformierten „Erbreligion": Heilige Schrift, Apostolicum und Heidelberger Katechismus. Obwohl er der Abendmahlsgemeinschaft mit seiner Gemeinde (unter Berufung auf Mt. 7, 9) jahrelang ferngeblieben war, wurde er kirchlich bestattet.
Von der Erwachsenentaufe (→Taufe) der Solinger Neutäufer und ihrer schweren Zuchthausstrafe in Jülich (1717–21) war Tersteegen durch seinen Freund Adolf Weber in Haan, mit dem Johann Lobach aus der Haft korrespondierte, von Anfang an unterrichtet. Nach Lobachs Entlassung und Ansiedlung in Krefeld trat er mit ihm, Gottfried Luther Stetius, dessen Frau Amalia, geb. Kauertz, sowie mit Abraham und Peter Lobach in Verbindung. Bei seinen wiederholten Besuchen in →Krefeld wurde er mit zahlreichen weiteren mennonitischen Gemeindegliedern und Familien persönlich bekannt: Diekers, Goyen, Frau Hofstadt, Jentges, von der Leyen, Lingen, Naas, Rahr, Scheuten, Elisabeth Schröder und Tirion. Während er im kleinen Kreis der →Quäker in Amsterdam mehrfach gepredigt hat, wurde seine sensationelle, einmalige Predigt in Krefeld (25. August 1751) zur öffentlichen Bestätigung gegenseitiger Hochachtung und Bruderschaft: Von den beiden Predigern zur Kanzel geleitet, fand er die Kirche der Mennoniten „gepfropft voll mit allerlei Religionen, doch meistens Reformirten und Mennoniten“. Die innige Freundschaft (seit 1737) mit Arnold Goyen, dem Sohn des Predigers Goswin Goyen, beruhte auf der gemeinsamen Hinwendung zur quietistischen Mystik und zu weltabgekehrter Lebensführung, während er dessen kränklich-labile Schwägerin Maria von der Leyen (seit ca. 1740) mit Geduld, kritischem Scharfblick und seelsorgerlicher Weisheit jahrelang betreute. Bis zuletzt wußte er sich jedoch dem gesamten „Häuflein zu Creivelt“ ohne Ansehen der Person, des Alters oder des Standes der Mitglieder verbunden.
Unter den zwei Dutzend seiner niederländischen Korrespondenten war ihm Aldert Sierts van Dyk, der Prediger der alten Flamingen in Groningen, „ein mir wohlbekannter lieber Bruder“; Jan Beets in Hoorn, den erfolgreichen mennonitischen Erweckungsprediger des Jahres 1750, mit dem er mehrmals in Amsterdam zusammengetroffen war, bezeichnete er als „einen guten Freund von mir“. Tersteegens Schriften fanden viele Leser auch unter den pfälzischen Mennoniten.
Der junge Prediger Adam Krehbiel vom Weierhof bedankte sich bei ihm, „viel Licht und Segen“ durch sie empfangen zu haben, „da ich schon fünf Jahre seit meiner Erweckung ein kümmerliches und beschwertes Leben führte“, und bat ihn um Fürbitte und Zuspruch für sich und seine Gemeinde (30. April 1766).
Der wichtigste Vermittler Tersteegens in Nordamerika war der deutsche Drucker Christoph Sauer d. Ä. aus Laasphe, der, in Germantown wiedergetauft (1724), seit 1742 alljährlich nicht nur Neutäufer und Mennoniten, sondern sämtliche deutschsprachigen Protestanten mit Tersteegens Schriften versorgte. Die Mennonitenprediger Joseph Nafziger, Jacob Ellenberger und Felix Licht[i?] empfahlen in Lancaster, Pa., eine Neuauflage seiner Briefsammlung „nicht allein den Christen ihrer eigenen Verfassung, sondern (…) allen Bekennern der Religion Jesu Christi“ (1819).
Wenn Tersteegen Mennoniten und Neutäufer, Quäker und Mystiker als seine christlichen Brüder ansprach, galt das teils ihrem entschiedenen Zeugnis gegenüber der Welt, teils der Ernsthaftigkeit ihrer „Herzens-Theologie“. — „Gott zu leben in Christo Jesu [Rö. 14,8] muß unsere Hauptsache sein, worauf unsere Vereinigung [= Übereinstimmung] soll bestehen. In Nebenerkenntnissen sollen wir einander tragen“, war seine Devise (1753). Doch ebenso wenig wie das Abendmahl, zählte er die Taufe zur Hauptsache des Christenlebens. Als Kind getauft, hielt er gleichwohl eine Erwachsenentaufe aus Respekt für das Gebot Jesu als Option für sich selbst denkbar, unter der Voraussetzung allerdings, daß sie ihm nicht als Heilsmittel aufgezwungen würde. Fände sich eine Gelegenheit, würde er sich freuen, seine Zugehörigkeit zum Herrn durch die Taufe öffentlich und feierlich zu bezeugen, schrieb er (an Pieter Hendrik Coerseszoon, 18. Dezember 1736). Aber eine solche Gelegenheit fand sich nie, und er suchte sie nicht. In dieser Hinsicht ist er den Vertretern des mystischen →Spirtualismus seiner Zeit zu vergleichen.
Werke
Gesammelte Schriften, 8 Bde., Stuttgart 1844–1846.- Geistliche Reden, hg. von Albert Löschhorn und Winfried Zeller, Göttingen 1979. - Briefe in niederländischer Sprache, hg. von Cornelis Pieter van Andel, Göttingen 1982.- Briefe 1 u. 2, hg. von Gustav Adolf Benrath, Giessen und Göttingen 2008. - Quellen in Auswahl: Ich bete an die Macht der Liebe, hg. von Dietrich Meyer, Gießen 1997. - Für dich sei ganz mein Herz und Leben, hg. von Ulrich Bister, Gießen 1997. - Horst Neeb (Hg.), Geistliches Blumenfeld, Düsseldorf 2000.
Literatur
J. F. Gerhard Goeters, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein, in: Geschichte des Pietismus 2, Göttingen 1995.- Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 11, 1996, Sp. 674–695 (Lit.).- Manfred Kock (Hg.), Gerhard Tersteegen. Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Düsseldorf 1997.- Gustav Adolf Benrath, Gerhard Tersteegen und die Tersteegenianer, in: Hermann-Peter Eberlein (Hg.), Evangelische Kirchengeschichte im Rheinland II (in Vorbereitung).
Gustav Adolf Benrath