Inhaltsverzeichnis
Sowjetunion (Mennoniten nach 1917)
Nach der Usurpation der Macht im Land durch die Kommunistische Partei im Oktober 1917 begann für die Mennoniten (→Russland, Mennoniten vor 1917) ein Weg des gesellschaftlichen Abstiegs, der Stigmatisierung und Diskriminierung, der sieben Jahrzehnte später in einer nahezu vollständigen Auswanderung in die Bundesrepublik Deutschland endete.
1. Mennoniten in der Zeit von Revolution und Bürgerkrieg
Mit der Auflösung der mennonitischen Selbstverwaltung und Nationalisierung des Bodens und der Betriebe, angeordnet durch die junge Sowjetmacht, rückte unwiderruflich das Ende der traditionellen mennonitischen gesellschaftlichen Strukturen näher. Die Ruhepause für die Mennoniten in der Ukraine, eingeleitet durch den Einmarsch der deutschen und österreichischen Truppen im April 1918, war von kurzer Dauer und ging mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zu Ende. Danach stellte sich in der Ukraine ein Machtvakuum ein, den kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Verbänden der Weißen Bewegung und der Roten Armee sowie deren zeitweiligen Verbündeten, des Anarchisten Nestor Machno, füllten. Im bewaffneten Kampf aller gegen alle nahmen auch kleinere nachbarschaftliche Banden teil.
Die deutschen Siedler, darunter Mennoniten, begegneten dieser Bedrohung mit der Organisation eines bewaffneten Selbstschutzes. Die Mennoniten, die nun als Kultur- und nicht mehr als Kultusgemeinschaft agierten, stellten in den Kolonien Kampfeinheiten auf. Im Gebiet Prischib-Molotschna gehörten zu den etwa 20 Infanterieeinheiten mit insgesamt 2700 Kämpfern dreizehn mennonitische Einheiten. In Molotschna sorgten für die Einberufung die lokale mennonitische Selbstverwaltung und in der Kolonie Jasykowo die deutschen Offiziere. Selbstschutzeinheiten existierten auch in der Kolonie Chortitza sowie den Siedlungen in Orenburg und Sibirien. Die Stimmen der bekennenden Wehrlosen gingen in Volksversammlungen unter. Die Allgemeine Mennonitische Bundeskonferenz in Lichtenau (30. Juni – 2. Juli 1918) hielt zwar an dem traditionellen Bekenntnis zur →Wehrlosigkeit fest, empfahl allerdings, den Andersdenkenden keinen Gewissenszwang aufzulegen.
Der Selbstschutz war nicht imstande, die mennonitischen Kolonien gegen ihren größten Gegner, Nestor Machno, dessen Verbände bis zu 83000 Infanteristen und 20125 Kavalleristen zählten, dauerhaft und effektiv zu verteidigen. Am 25. Oktober 1919 wurden im Dorf Eichenfeld in der Kolonie Jasykowo innerhalb von vierundzwanzig Stunden mehr als achtzig Männer ermordet; Ende November 1919 gab es in der Kolonie Sagradowka 214 Ermordete und sechs niedergebrannte Dörfer; viele Opfer militärischer Auseinandersetzungen hatte auch Blumenort in der Molotschna zu beklagen. Darüber hinaus starben unter der mennonitischen Bevölkerung der Ukraine zahlreiche Menschen durch Epidemien, die von marodierenden Banden übertragen wurden. Die Verarmung erreichte ein katastrophales Ausmaß. Ende 1920 setzte die erste große Hungersnot ein, weitere folgten.
Erst die Einkehr der Roten Armee und die Festigung der Sowjetmacht ab 1920 brachten den Mennoniten eine gewisse Stabilität. Sowohl von der sowjetischen Propaganda als auch im interkonfessionellen Dialog wurde den Mennoniten bis in die 1980er Jahre der Selbstschutz vorgeworfen. Trotz des Selbstschutzes blieben viele Mennoniten in den Turbulenzen des Bürgerkrieges dem Grundsatz der Wehrlosigkeit treu – so in Zentralasien und am Fluss Terek.
2. Konsolidierung nach dem Bürgerkrieg
Die Tragödie der Mennoniten Russlands weckte größte Anteilnahme bei ihren Glaubensgeschwistern in Europa und Nordamerika. Durch die neugegründeten →Mennonite Central Committee (USA, Juli 1920), Canadian Central Committee (Oktober 1920) und der Algemene Komissie voor buitenlandsche Nooden (Niederlande, Dezember 1920) strömte umfangreiche Hilfe für den wirtschaftlichen Neuanfang und die Hungerbekämpfung unter Mennoniten. So förderte die Tragödie des Mennonitentums in Sowjetrussland den internationalen mennonitischen Zusammenhalt.
Um in den Genuss der Befreiung vom Militärdienst für pazifistische Gruppen durch die Sowjetregierung zu gelangen, initiierte die mennonitische Ältestenschaft in der Molotschna am 19. Februar 1921 die Gründung eines Verbandes der Mennoniten Süd-Russlands. Die Anerkennung durch die ukrainische republikanische Sowjetbehörde konnte erlangt werden, weil soziale und wirtschaftliche Ziele ins Programm aufgenommen wurden und die religiöse Konnotation im Verbandsnamen getilgt wurde. So wurde am 25. April 1922 in der ukrainischen Hauptstadt Charkow der Verband der Bürger Holländischer Herkunft registriert, der etwa 60000 Mennoniten der Republik vertrat. Dem Verband unter der Leitung von Benjamin Janz gelang es, die weitere Aufspaltung des Ackerlands aus dem mennonitischen Besitz unter die Grenze von bereits existierenden 32 Hektar pro Familie aufzuhalten. 1922 erwirkte der Verband eine Ausreisegenehmigung für landlose Mennoniten, wodurch eine geordnete Emigration von etwa 20000 Personen nach Nordamerika ermöglicht wurde, die von der wirtschaftlichen, intellektuellen und kirchlichen Elite intensiv genutzt wurde. Der Verband organisierte die Verteilung der Hilfsgüter aus dem Ausland und setzte sich für die Belange der Kriegsdienstverweigerer ein. Die Erfolge des Verbands in der Vertretung mennonitischer Interessen veranlassten die ukrainische Regierung im September 1925 rigoros einzugreifen: sein Allukrainischer Kongress am 17. - 18. Februar 1926 war der letzte.
Primär soziale und wirtschaftliche Ziele verfolgte auch der Allrussische Mennonitische Landwirtschaftliche Verein (AMLV) mit Sitz in Moskau. Er ging aus der Tätigkeit von Peter F. Fröse und Cornelius F. →Klassen im Vereinigten Rat der religiösen Gemeinschaften und Gruppen hervor, der durch die zentrale sowjetische Regierung am 4. Januar 1919 anerkannt wurde und Befreiung vom Militärdienst für Kriegsdienstverweigerern diverser Konfessionen erwirkte. Der AMLV wurde im November 1922 in Alexandertal gegründet. Er vertrat etwa 44000 Mennoniten in Russland und Zentralasien, nahm Teil an der Verteilung von Hilfsgütern aus dem Ausland, sorgte für Verbesserung des Saatguts und gab zwischen Mai 1925 und Dezember 1926 die Zeitschrift Der praktische Landwirt heraus. Im Sommer 1928 wurde der Verein von der Regierung aufgelöst.
In den Turbulenzen des Bürgerkriegs festigte sich auch die konfessionelle Geschlossenheit, demonstriert durch enge Zusammenarbeit aller drei mennonitischen Glaubensgemeinschaften auf den landesweiten Konferenzen und Kongressen in Ohrloff (14. – 18. August 1917), Neuhalbstadt (6. – 8. Juni 1917), Lichtenau (30. Juni – 2. Juli 1918), Moskau (13. – 18. Januar 1925) und Melitopol (All-Ukrainische Konferenz, 5. – 9. Oktober 1926). In Moskau bestätigten die 73 Delegierten aus allen mennonitischen Siedlungsgebieten von der Ukraine bis Zentralasien ein Memorandum der Kommission für kirchliche Angelegenheiten an die Sowjetregierung vom 23. Mai 1924, in dessen letztem Punkt die Befreiung der Mennoniten vom Militärdienst gefordert wurde. Damit lehnten die Mennoniten als einzige Freikirche in der Sowjetunion den Militärdienst ab. Alle anderen gaben dem Druck der Sowjetregierung nach. Noch Jahrzehnte später, bis in die 1960er Jahre, galten die Mennoniten aus diesem Grund bei den sowjetischen Behörden als antisowjetisch und asozial.
3. Endgültige Auflösung des mennonitischen gesellschaftlichen Gefüges
Mit der Stärkung der sowjetischen Macht und dem Ausbau der ideologischen Manipulation der Bevölkerung ging die weitere schrittweise Demontage der mennonitischen Strukturen einher. 1925 wurde der landesweite Kampf gegen die Religion in den Schulen massiv verstärkt, so dass die mennonitischen glaubenstreuen Lehrer ihre Stellen verloren. 1927 wurden die ersten mehrjährigen Haftstrafen für aktiven Widerstand gegen die antireligiöse Propaganda durch Prediger verhängt.
Der endgültige Zusammenbruch der verbliebenen mennonitischen Strukturen ereignete sich 1929 bis 1933 im Laufe der Zwangskollektivierung der Bauernschaft und Entkulakisierung, als die Kulaken, also wohlhabende Bauern, die Lohnarbeiter einstellten, enteignet und verbannt wurden. Das gleiche Los traf die Prediger und Ältesten, die, wenn nicht verbannt, zu Haftstrafen zwischen drei und fünf Jahren verurteilt wurden. Das Gemeindeleben kam zum Erliegen, die Kirchen wurden zweckentfremdet. Die junge mennonitische Generation wurde unter dem allgegenwärtigen Einfluss der sowjetischen Ideologie nunmehr atheistisch erzogen. Seltene einzelne religiöse Handlungen wie Beerdigungen wurden mit hohen Bußgeldern, wenn nicht mit Haftstrafe, geahndet.
Die zweite Verfolgungswelle im Jahr 1934 traf religiös aktive Mennoniten. Ihre Haftstrafen betrugen acht bis zehn Jahre. Die dritte Verfolgungswelle in den Jahren 1937 bis 1938 nahm die Form von politischen Säuberungen an, zahlreiche mennonitische Opfer wurden meistens hingerichtet. Das Ausmaß der Tragödie illustriert das kleine mennonitische Dorf Susanowo im Gebiet Orenburg. Es bestand aus 25 Höfen, aus denen zwischen dem 2. Februar und 1. Mai 1937 zwölf Männer verhaftet und nach einigen Monaten hingerichtet wurden.
Die nächste Phase der mennonitischen Leidensgeschichte begann im Sommer 1941 mit dem Beginn des Krieges zwischen Deutschland und der UdSSR. Infolge des hohen Tempos der Wehrmachtsoffensive gelang der Sowjetmacht lediglich eine Teildeportation der deutschen Bevölkerung in den Osten des Landes. Viele mennonitische Familien wurden durch die Frontlinie getrennt, indem die einsatzfähigen Männer im Osten verblieben, die Restfamilien sich aber unter der deutschen Besatzungsmacht von der sowjetischen Schreckenszeit erholten. Stark geschrumpfte mennonitische Gemeinden nahmen ihre Tätigkeit wieder auf; Mennoniten wurden aber auch in die deutsche Wehrmacht eingezogen. In den letzten Jahren ist das Bewusstsein dafür gewachsen, dass russlanddeutsche Mennoniten nicht nur unter der Sowjetmacht gelitten, sondern sich gelegentlich auch während der Besatzung durch die deutsche Wehrmacht an den Vernichtungsaktionen gegen die jüdische Bevölkerung in ihrer Umgebung beteiligt haben. Diese Geschichte ist noch nicht vollends aufgeklärt und bedarf weiterer Nachforschung (→Drittes Reich, s. Gerhard Rempel, Mennoniten und der Holocaust, 2010). Bei dem Wehrmachtsrückzug im Herbst 1943 wurden die Volksdeutschen, darunter 35000 Mennoniten, nach Deutschland überführt, von denen nach dem Kriegsende 12000 nach Kanada und Südamerika gelangten. Der Rest wurde in die Sowjetunion als Repatriierte zurückgeführt. So wurde die Familientrennung für viele Mennoniten aus der Ukraine zum dauerhaften Schicksal.
Alle ehemaligen deutschen Siedlungen im Westen der Sowjetunion außerhalb der besetzten Gebiete wurden im Herbst 1941 endgültig aufgelöst und deren deutsche Bevölkerung in den Osten des Landes deportiert. Davon verschont blieben lediglich die ehemaligen mennonitischen Kolonien in den Gebieten Orenburg, Omsk und Altai. Alle deportierten Deutschen, auch Mennoniten, wurden auf die ländlichen Gebiete in Westsibirien und Zentralasien verteilt. Im Januar 1942 wurden alle arbeitsfähigen Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren für Zwangsarbeit in diversen Lokationen der Arbeitsarmee mobilisiert; im Oktober desselben Jahres folgten ihnen Frauen, die keine kleinen Kinder unter drei Jahren hatten, und Männer im Alter bis zu 55 Jahren. Sie alle mussten einen erbitterten Kampf ums Überleben unter Hunger und Zwang in haftähnlichen Verhältnissen führen, viele gingen zugrunde. Erst nach Kriegsende 1945 linderte sich die Lage, als u. a. auch die Familienzusammenführung erlaubt wurde.
4. Wiederbelebung des Glaubens
In der Sowjetunion erholten sich Glaubensgemeinschaften mit pietistischem Glaubenskern und einer Vielzahl von Laienverkündigern von den brutalen Verfolgungen der 1930er Jahre schneller als die übrigen, obwohl sie dafür einen höheren Preis zahlen mussten. Bereits 1942 entstanden in der Arbeitsarmee kleine geheime Gebetsgemeinschaften nach pietistischem Muster, die häufig interkonfessionell und immer illegal waren. Zu den wichtigsten Glaubenserfahrungen zählten die Nähe des im Leiden helfenden Gottes sowie das Erlangen der persönlichen Heilsgewissheit und die Verheißung des ewigen Lebens angesichts des allgegenwärtigen Todes.
Die ab 1945 aus Deutschland rückkehrenden Repatriierten mit Erfahrungen in ungestörtem Glaubensleben stärkten, sofern möglich, diese Gruppen, bzw. starteten ihre eigenen Gebetsgemeinschaften. Im Laufe der Zeit breiteten sich die Gebetskreise über weite Teile des deutschen Deportationsareals aus.
Die Staatsmacht, vor allem der Geheimdienst NKGB, dem die Aufsicht über die Deportierten unterstand, begann die Repressalien gegen die verstreuten deutschen erweckten Kreise erst im Jahr 1947, als Heinrich Fransen in Kimpersaj in Westkasachstan zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Weitere Haftstrafen in anderen Landesteilen folgten, so z. B. wurden im Gebiet Molotov 1950–1951 elf Personen, davon sieben Mennoniten, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, zwei Personen zu zehn, eine zu 15, eine zu 20 und sieben zu 25 Jahren Freiheitsentzug. Vier der Verurteilten waren im Alter unter 25 Jahren. Zu Haftstrafen von bis zu 25 Jahren wurden 1951 – 1953 im Gebiet Orenburg zwei Frauen und 33 Männer, im Gebiet Omsk 12 Männer verurteilt (Diese Liste ist unvollständig).
Die Lockerung des Regimes nach dem Tode Josef Stalins im März 1953 weckte auch unter immer noch deportierten Deutschen neuen Mut. Ab 1955 ging man in den Gebetskreisen zu Taufen über, wodurch ein Anfang für eine Vielzahl kleiner Gemeinden gelegt wurde, die lange nicht immer homogen mennonitisch waren und ihre mennonitische Identität betonten. Mit der Aufhebung der Deportation 1955 – 1956 wurde auch eine freie Wohnortswahl im Osten des Landes möglich. Es begann eine Wanderung in Richtung höherer Konzentration von Deutschen und kirchlicher Gemeinschaft. So bildete sich eine neue deutsche Siedlungsgeografie heraus. Nach dem Krieg lebte die Hälfte aller Deutschen in der UdSSR in Kasachstan, wo der religionspolitische Druck geringer war.
Die sowjetische Religionspolitik folgte der poststalinistischen Entspannung nur bedingt. Nach dem Ende der anfänglichen Phase der Legalisierung für einige ausgesuchte Konfessionen, darunter Baptisten und mit ihnen eng verwandten Evangeliumschristen, die bis 1948 dauerte, existierten viele Gemeinden illegal. 1958 wurde der Kampf gegen die Religion wieder aufgenommen, mit bis zu fünfjährigen Haftstrafen für Gemeindeleiter und Aktivisten. Eine Radikalisierung des freikirchlichen Spektrums, insbesondere unter den zahlreichen russischen Evangeliumschristen-Baptisten (EChB) war die Folge. Gegen den im Jahre 1944 gegründeten und vom Staat streng kontrollierten All-Unionsrat der EChB (AUREChB) erhob sich eine Opposition, aus deren Reihen sich 1965 der illegal agierende Rat der Gemeinden der EChB (RGEChB) herausbildete. Erst 1966 ermöglichte die Regierung wieder eine Legalisierung von Gemeinden unter bestimmten Auflagen. Die Deutschen, darunter auch mennonitischer Herkunft, bewegten sich nun im Spannungsfeld des landesweiten harten Konflikts zwischen dem AUREChB und dem RGEChB, zwischen dem Kurs auf Legalisierung und Verbleib in der Illegalität.
Die Korrekturen an der sowjetischen Religionspolitik im Jahr 1966 änderten auch die Einstellung zum Mennonitentum. Im selben Jahr wurden die ersten beiden Mennonitengemeinden in Tokmak und Romanowka, beide in Kirgisien, legalisiert. 1967 erlangte die große Mennoniten-Brüdergemeinde in Karaganda ihre Legalisierung – ein weiterer Meilenstein in der mennonitischen Nachkriegsgeschichte in der Sowjetunion.
Karaganda, die zweitgrößte Stadt der Kasachischen Sowjetrepublik, wies die höchste deutsche und mennonitische Präsenz in der Sowjetunion auf. Zur Erschließung von gigantischen Kohlevorkommen wurden ab 1931 in diese unwirtliche Gegend am Rande der Halbwüste Massen von Verbannten geschickt, darunter Mennoniten. 1942 kamen tausende junger deutscher Männer dazu, die in die Arbeitsarmee eingezogen waren. Nach Kriegsende wurde ihnen gestattet, weitere Familienmitglieder zu sich zu holen. Ab 1956 siedelten hier weitere Deutsche an. Unter den Verbannten und Deportierten gab es von Beginn an eine Vielzahl von Christen verschiedener Konfessionen, darunter Mennoniten, deren Gemeinde 1934 durch Verhaftung ihrer sechs Prediger und Verkündiger aufgelöst wurde. Den ebenso verbannten russischen Baptisten und Evangeliumschristen gelang 1946 die Legalisierung einer Gemeinde unter der Schirmherrschaft des AUREChB. Bereits bei der Legalisierung bestand sie zu 20 % aus Deutschen, auch mennonitischer Herkunft. Im Jahr vor der Aufhebung der Deportation 1955 zählte die Gemeinde bereits über 900 Mitglieder, mindestens die Hälfte von ihnen trugen deutsche Namen. 1981 erreichte die Gemeinde eine Mitgliederzahl von über 1400 Personen und war damit die größte EChB-Gemeinde in Kasachstan. Etwa 900 der Mitglieder (65 %) wurden den Deutschen zugerechnet, von denen wiederum mindestens 60 % mennonitischer Herkunft waren.
Ende 1956 trennte sich eine kleine Gruppe von der EChB-Gemeinde in Karaganda und gründete die Deutsche →Mennoniten-Brüdergemeinde. Gespeist durch den Zuzug aus anderen Deportationsgebieten und Taufen, wuchs die Gemeinde bis auf 984 Mitglieder im Jahr 1959 an. Die ersten zehn Jahre lebte die Gemeinde in der Illegalität, ohne permanente Versammlungsräume und unter vielen Entbehrungen. Ihr Ältester David →Klassen mitsamt drei weiteren Predigern wurden 1962–1963 zu Haftstrafen verurteilt; einer von ihnen, Otto Wiebe, starb im Arbeitslager. 1964 fand ein Wechsel in der Leitung statt, der zur Stärkung der mennonitischen Identität der Gemeinde führte. Nach der Legalisierung im Jahr 1968 errichtete die Gemeinde ihr eigenes Bethaus. Mitte der 1980er Jahre zählte sie etwas mehr als 1000 Mitglieder.
Die Mennonitengemeinde in Karaganda nahm am 1. Advent 1957 ihre Tätigkeit wieder auf. Auch sie wuchs zunächst durch starken Zuwachs aus anderen Deportationsgebieten. Nach trüben Zeiten in den nachfolgenden Verfolgungsjahren wuchs die Gemeinde ab 1965 wieder an. In den Jahren 1969–1985 versammelte sich die Mitglieder in den Räumen der Mennoniten-Brüdergemeinde, bis schließlich ein eigenes Gemeindehaus genehmigt und errichtet wurde. 1983 zählte die Gemeinde 394 Mitglieder. Spätestens zu diesem Zeitpunkt vertrat sie pietistische Positionen: zur Taufe wurden nur bekehrte Personen zugelassen. Die Tendenz zum Pietismus war bei allen Mennonitengemeinden der Nachkriegszeit deutlich erkennbar.
Zu illegal agierenden Gemeinden in Karaganda mit mennonitischen Mitgliedern zählte auch eine aus dem RGEChB und eine weitere, die autonom blieb.
Die Frage nach der Identität der Mennoniten in der Sowjetunion lässt mehrere Deutungen zu. Am deutlichsten war wohl die mennonitische Selbstidentifikation in den Mennonitengemeinden und den Mennoniten-Brüdergemeinden. Diese jedoch zählten in ihren Reihen viele Mitglieder ohne typisch ethnokonfessionelle Merkmale wie Plattdeutsch oder ethnische Herkunft. Damit verließen die mennonitischen Gemeinden, vor allem in ehemaligen Deportationsgebieten, den ethnokonfessionellen Boden. Eine Vielzahl von Mitgliedern der EChB-Gemeinden pflegte ihre mennonitische Identität in den Familien; die Leitung des AUREChB, in den die Mennoniten 1963/1966 aufgenommen wurden, betrachtete alle Deutschen in den eigenen Reihen als Mennoniten ohne auf deren Selbstidentifikation Rücksicht zu nehmen. Laut Schätzungen hatten 60% der Mitglieder in deutschen EChB-Gemeinden mennonitischen Hintergrund.
Uneingeschränkte Wehrlosigkeit wie vor 1917 wurde den Mennoniten in der UdSSR nie wieder eingeräumt. Ab 1955 mussten die deutschen jungen Männer ausnahmslos zum Militärdienst. Einige Christen verweigerten den Fahneneid, was in einigen Fällen zu Haftstrafen führte. Aktionen des RGEChB im Jahr 1972 führten zur Linderung der Haltung der Militärbehörde, so dass junge Männer, darunter Mennoniten, in immer größeren Zahlen den Fahneneid verweigerten. In den Gemeinden überließ man die Entscheidung darüber dem Gewissen eines jeden Einzelnen.
5. Statistisches
Die Statistik des AUREChB über deutsche und mennonitische Gemeinden 1986–1987 erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Präzision. 237 Gemeinden mit deutschen Mitgliedern im AUREChB mit 21582 Mitgliedern; 52 Gemeinden mit vermuteten deutschen Mitgliedern im RGEChB mit ca. 3571 Mitgliedern; 31 legale EChB-Gemeinden außerhalb des AUREChB mit 2272 Mitgliedern; 9 legale Mennonien-Brüdergemeinden mit 2449 Mitgliedern; 28 legale Mennonitengmeinden mit 2525 Mitgliedern; 16 nicht klassifizierbare Gemeinden. Insgesamt: 373 Gemeinden mit 32399 Mitgliedern.
Mit der Neuregelung der Auswanderungsbestimmungen durch die Sowjetunion am 1. 1. 1987 sind innerhalb von zehn Jahren nahezu alle Mennoniten in die Bundesrepublik Deutschland ausgewandert.
Bibliografie (Auswahl)
Quellen
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Internet
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Johannes Dyck