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Gemeindeordnungen (im Täufertum)
Durch die Jahrhunderte haben christliche Gemeinden Regeln, Zuchtordnungen und rituelle Bestimmungen hervorgebracht, um ihre Mitglieder mit geistlicher, moralischer und praktischer Orientierung auszustatten. Anders als Bekenntnisschriften, die sich auf Lehraussagen zu konzentrieren pflegen, regeln Gemeindeordnungen vor allem moralische und praktische Angelegenheiten des Alltags. Unter den kirchlichen Gruppen, die in der täuferischen Tradition stehen, haben die Hutterer (→Hutterische Bruderhöfe) am erfolgreichsten Gemeindeordnungen eingesetzt, um ihr Zusammenleben zu regeln, aber auch andere täuferische Gemeinschaften haben sie für ihre Frömmigkeitspraxis genutzt.
1. Erste Gemeindeordnung in der Schweiz
Die erste bekannte Gemeindeordnung im Täufertum wurde irgendwann in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts unter den schweizerischen Täufern eingeführt. Einige Täuferforscher haben diese Ordnung zeitlich und räumlich mit dem →Schleitheimer Bekenntnis von 1527 in Verbindung gebracht, es gibt aber auch gute Gründe für die Annahme, dass sie dem Schleitheimer Bekenntnis vorausging. Bereits 1525 existierten Bedingungen, die in der Ordnung beschrieben wurden, in dem Dorf Zollikon und im Gebiet St. Gallens. Ähnliche Bedingungen waren auch in Appenzell um 1528 und 1529 anzutreffen.
Diese Ordnung enthält sieben Artikel, die so zusammengefasst werden können: 1. Die Brüder und Schwestern sollen sich drei oder vier Mal in der Woche zu gegenseitiger Ermahnung treffen. 2. Wenn sie die Heilige Schrift gemeinsam lesen, sollte derjenige, der über einen besseren Verstand verfügt, für die Auslegung des Textes verantwortlich sein. Die Psalmen sollten zu Hause gelesen werden. 3. Eine makellose Lebensführung sollte innerhalb und außerhalb der Gemeinde erwartet werden. 4. Wenn ein Bruder irrte oder strauchelte, sollte er nach der Regel Christi ermahnt werden (→Bann), dazu sollte jedes Gemeindeglied zur Nächstenliebe verpflichtet sein. 5. Christen sollen alles miteinander teilen. 6. Prassen solle vermieden werden. 7. Das Abendmahl soll miteinander gefeiert werden, wann immer die Gemeinde beisammen ist, „hermidt (hiermit) den dodt des herren verckunden und einen yecklichen vermanen, daby zu gedencken, wie Christüs sin lib für uns geben und sin blut für uns vergossen, das wir ouch willig sein, unser lib und leben um Christus willen, das ist für alle brüder, zu geben“ (Haas, Quellen, 488).
Das Thema, das alle Forderungen miteinander verbindet, ist Einheit und Liebe, wie sie ihren Ausdruck in einer egalitär geprägten Gemeinde findet, die im Gegensatz zur Welt um sie herum steht. Auch wenn eine Form der Gemeindeleitung nicht ausgeschlossen wird, ist doch allgemein anzunehmen, dass das Lesen der Heiligen Schrift und die Praxis der Ermahnung in der Verantwortung der gesamten Gemeinde lag. Auch wurde die Praxis der sozialen Gleichstellung aller Gemeindeglieder auf den Bereich der Wirtschaft ausgedehnt – nach dem Beispiel der frühen Kirche, wie es in Apg. 2 und 4 beschrieben wurde. Dort wird davon berichtet, dass in der christlichen Gemeinde alles allen gehörte.
In der Vergangenheit neigten freikirchliche Theologen und mennonitische Täuferforscher dazu, die Praxis der →Gütergemeinschaft allein mit der hutterischen Bewegung in Verbindung zu bringen, aber die Forderung, alles miteinander zu teilen, die in dieser Gemeindeordnung erhoben wurde, legte die Meinung nahe, dass dieser Brauch schon vor den Anfängen der hutterischen Bruderhöfe unter den schweizerischen Täufern existierte. Die Schweizer hatten diese Anregung aus dem Neuen Testament entnommen, ebenso waren sie zweifellos auch von den bäuerlichen Bemühungen geprägt worden, die sich in jenen Jahren für neue Formen des Allgemeinbesitzes eingesetzt hatten.
2. Gemeindeordnung in Mähren
Kurze Zeit nach dieser ersten Ordnung entstand eine zweite, die zwölf Artikel enthielt. Sie fand ihren Weg in die hutterischen Codices in Mähren, die Einzelheiten ihrer Überlieferung bleiben jedoch im Unklaren. Diese Gemeindeordnung enthält zwar einen einzigartigen Hinweis auf „das Evangelium aller Kreatur“ – eine Formulierung aus den Schriften Hans →Huts – und könnte in einer Gemeinschaft der Anhänger Huts gebräuchlich gewesen sein, die sich dann selbst im mährischen Austerlitz 1528 festsetzte. Dem Inhalt nach ist diese zweite Ordnung sicherlich eine revidierte und ausgearbeitete Fassung der ersten Ordnung. Sie hat allerdings eine weiter entwickelte Struktur des gemeindlichen Lebens und der Gemeindeleitung im Auge und fügt auch ein apokalyptisches Element hinzu, indem sie die Gläubigen auffordert, sich um Christus zu scharen, wenn er wiederkommt, und so dem kommenden Gericht zu entgehen.
3. Gemeindeordnung Leupold Scharnschlagers
Eine dritte Gemeindeordnung, die auch zu dieser Zeit entstand, trägt den Namen Leupold Scharnschlagers und scheint, wie die eben erwähnte Ordnung, ebenfalls eine Revision der ersten Gemeindeordnung zu sein, auch wenn sie eine stärker ausgearbeitete Führungsstruktur der Gemeinde widerspiegelt. Einige Täuferforscher haben daraus den Schluss gezogen, dass sie 1528 in Straßburg entstanden sein muss, andere haben sie auf eine spätere Zeit datiert, möglicherweise die frühen 1540er Jahre. Ihr Titel, Gemeinsame Ordnung der Glieder Christi in sieben Artikeln gestellt, legt die Vermutung nahe, dass sie einer größeren Anzahl täuferischer Gruppen als Orientierung gedient habe. In ihr waren wohl einige der wichtigsten Organisationsprinzipien des Kreises um Pilgram →Marpeck zur Geltung gebracht worden, auch könnte sie in den mährischen Gemeinden angewandt worden sein, die mit Marpeck in Verbindung standen.
Einer der auffälligsten Punkte ist, dass die Gütergemeinschaft nicht mehr als verbindlich angesehen wurde; nicht einmal die Verpflichtung der Gemeinde, drei oder vier Mal wöchentlich zusammen zu kommen, wurde mehr wie in den anderen Ordnungen erwähnt. Wohl wurden die Gläubigen daran erinnert, die regelmäßige Gemeinschaftspflege nicht zu vernachlässigen, dennoch wurde denjenigen, die auf weiten Reisen unterwegs waren, einige Zugeständnisse gemacht. Diese Revisionen zeigen, dass die Gemeindepraxis im Täufertum jener Zeit noch im Fluss war und sich an die wechselnden sozialen Situationen anpasste. Noch hatte sich keine festgefügte Tradition ausgebildet.
4. Wismarer Artikel
Auch im niederdeutschen und niederländischen Raum brachten die Täufer 1554 eine Gemeindeordnung hervor: die Beschlüsse von Wismar (Besluyt tot Wismar bzw. das Bespreck van Wismar). Es waren mehrere prominente Täuferführer auf der Zusammenkunft in Wismar dabei, die diese Gemeindeordnung in neun Artikeln berieten und beschlossen: Menno Simons, Dirk Philips, Leenaert Bouwens, Gillis van Aken, Herman van Tielt, Hans Busschaert und Hoyte Riencx. Die ersten fünf Artikel beschäftigen sich mit der Praxis des Banns und der Meidung. Der sechste Artikel erörtert die Frage, ob jüngere Gemeindeglieder die Erlaubnis der Eltern einholen müssten, wenn sie heiraten wollten. Der siebente Artikel diskutiert die Frage, ob Gläubige ein Recht haben, die pünktliche Rückzahlung von Schulden zu erwirken, und der achte Artikel bespricht die Bedingungen und die Grenzen des Waffentragens. Der letzte Artikel erörtert die Eignung derjenigen, die berufen werden, in der Gemeinde zu predigen und zu lehren. Diese Artikel wurden noch in demselben Jahr in Amsterdam veröffentlicht und danach mehrmals nachgedruckt.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Zusammenkunft von Wismar bestand darin, die Spannungen zu lösen, die von Fragen der Kirchenzucht (→Bann) erzeugt worden waren. Doch die Lösungsvorschläge wurden nicht von allen Täufergruppen angenommen. Im nordholländischen Waterland verfolgte ein Teil der niederländischen Täufer („Waterländer“) eine tolerantere Lösung. Gemäßigtere Ansichten äußerten auch Täufer, die sich in den 1550er Jahren in Straßburg trafen.
5. „Abrede und Verordnung“ in Straßburg
1568 trafen sich Täufer in Straßburg und verabschiedeten eine Gemeindeordnung mit 23 Artikeln, die 1607 ratifiziert wurden: Abrede und Verordnung der Diener und Eltesten in der Versammlung zu Straßburg, eine Art Handbuch für Prediger und Älteste. Diese Ordnung gibt keinerlei Hinweise darauf, von welchen Täufergruppen sie angenommen wurde; wir werden nur darüber informiert, dass Süddeutsche unter den Teilnehmern der Konferenz waren. Möglicherweise waren Schweizer Brüder und Täufer vom Oberrhein mit von der Partie.
Die Abrede und Verordnung behandelt größtenteils Themen wie Rechte und Pflichten der Prediger und Ältesten, auch das Ritual des Brotbrechens, die Sorge für die Waisen, Regeln der Gemeindeversammlungen und Fragen der Kirchenzucht. Einige Artikel beschäftigen sich auch mit wirtschaftlichen Angelegenheiten, mit Ehe und schlichter Lebensführung. Ein Artikel bezieht sich auf die Inkarnationslehre, ein anderer begründet die Einschränkung des „heiligen Kusses“ auf Glaubensgenossen und wieder ein anderer beschäftigt sich mit dem Jagen und Schießen von Wild.
Alles in allem versucht diese Gemeindeordnung den Gemeindeleitern eine Orientierung in praktischen Angelegenheiten an die Hand zu geben. Diese Anleitungen scheinen offenbar auch anderswo Resonanz gefunden zu haben, denn über die Jahrhunderte wurde die Abrede und Verordnung von verschiedenen Gruppen angenommen. Sie wurde in handschriftlicher Form von schweizerischen und oberdeutschen Mennoniten übernommen (Obersülzen und Offstein 1688). Nach ihr haben sich auch Amische in Nordamerika bis ins 19. Jahrhundert hinein gerichtet. Wie weit diese Ordnung unter den Amischen tatsächlich in Gebrauch war, ist eine wichtige Frage, die noch nicht ausreichend untersucht wurde.
Quellen
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Literatur (Auswahl)
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Lexikonartikel
Harold S. Bender, Art. Strassbourg Conferences, in: Mennonite Encyclopedia IV, 642–644. - Robert Friedmann, Art. Gemeindeordnungen, in: Mennonite Encyclopedia II, 454–455. - Nanne van der Zijpp, Art. Wismar Resolutions, in: Mennonite Encyclopedia IV, 966.
Karl Koop