Puidoux-Konferenzen

Die nach dem Ort des ersten Treffens benannten Puidoux-Konferenzen (1955–62 bzw. 1955–69) waren eine Reihe theologischer Fachgespräche zwischen Vertretern der evangelischen Landeskirchen und der Historischen Friedenskirchen sowie des Internationalen Versöhnungsbundes über den Zusammenhang von christlichem Friedenszeugnis und staatlicher Gewalt.

1. Vorgeschichte

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Kirchen auf der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Amsterdam 1948 gemeinsam formulieren: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“. Trotz der gemeinsamen Überzeugung waren allerdings auch Meinungsverschiedenheiten deutlich geworden. Ähnlich wie bei der Oxforder Konferenz für Praktisches Christentum 1937 hatten sich in Amsterdam drei Positionen abgezeichnet. Man konnte sich zwar gemeinsam darauf einigen, dass Krieg nicht dem Willen Gottes entspricht, bewertete Krieg allerdings divergierend als notwendige Verteidigung der Gesetzesordnung, als zuweilen ungerechte Verpflichtung oder als völlige Unmöglichkeit für Christen. Im Jahr nach der Vollversammlung bildete sich in Europa ein gemeinsamer Fortsetzungsausschuss aus Vertretern der Historischen Friedenskirchen (→Church of the Brethren, →Quäker, →Mennoniten) und des Versöhnungsbundes (International Fellowship of Reconciliation, IFOR). In den USA gab es bereits seit den 1930er Jahren eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Friedenskirchen. Sie wurde von der Hoffnung getragen, dass die Gespräche über die Ablehnung des Krieges und das biblische Friedenszeugnis auf ökumenischer Ebene vertieft würden. Da keine offiziellen Konsultationen veranstaltet wurden, veröffentlichten die Mitglieder des Fortsetzungsausschusses auf Anregung des Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen ihre Position in Studiendokumenten. Es entstanden War is contrary to the Will of God (1951) und Peace is the Will of God (1953), die zunächst wenig beachtet wurden und erst im Juni 1955 von Angus Dun und Reinhold Niebuhr eine prominente Replik erhielten.

Bei der zweiten ÖRK-Vollversammlung 1954 in Evanston (USA) war die Friedensthematik nicht so übergreifend präsent wie sechs Jahre zuvor, wurde aber dennoch in mehrerer Hinsicht weiter geführt (Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg, Ablehnung von Wettrüsten und Massenvernichtungswaffen, Einsatz für Rassengleichheit). Dieses Mal sollte nach der Vollversammlung die Friedensfrage in ökumenischen Gesprächen vertieft werden. Bei einer Sitzung des Fortsetzungsausschusses mit ÖRK-Offiziellen in Genf im März 1955 wurde die Planung einer Konferenzreihe angeregt, bei der sich Theologen aus Friedenskirchen und Volkskirchen zum Thema „Die Herrschaft Christi über Staat und Kirche“ auseinandersetzen sollten. Der ÖRK war auch neben den Puidoux-Konferenzen in der Friedensfrage aktiv, unter anderem wurde eine Studienkommission eingesetzt, die ihre Ergebnisse in dem umstrittenen Text Christians and the Prevention of War in an Atomic Age (1958) zusammenfasste. In den Jahren 1956 bis 1959 entstanden außerdem drei ÖRK-Studiendokumente unter dem Titel The Lordship of Christ Over the World and the Church.

2. Themen, Treffen und Personen

Zu den eigentlichen Puidoux-Konferenzen gehören vier Zusammenkünfte zwischen 1955 und 1962 (Puidoux 1955; Iserlohn 1957; Bièvres 1960; Oud Poelgeest 1962). Die Teilnehmenden empfanden diese Gespräche als Wiederaufnahme eines Dialogs, der seit der Reformationszeit für fast vierhundert Jahre geruht hatte. Sie interpretierten die Zusammenkünfte als Neuanfang theologischer Gespräche zwischen Nachfahren der magistralen Reformation (Lutheraner, Reformierte) und denen des „Linken Flügels der Reformation“ (Täufer, Brethren, Quäker, Mennoniten).

Besondere landeskirchliche Theologen aus Deutschland, die zumeist aus der staatskritischen Tradition der Bekennenden Kirche kamen und von der Neuordnung des deutschen Staates zwischen zwei Machtblöcken und der damit verbundenen Angst vor einem deutschen „Bruderkrieg“ (Einführung der Bundeswehr 1955) erfüllt waren, engagierten sich in den Konferenzen. Im Zentrum der Gespräche stand das Dilemma zwischen neutestamentlicher Liebesethik und staatlicher Gewaltverantwortung. Soziale Fragen wie die Gleichberechtigung von Frauen oder häusliche Gewalt kamen genauso wenig in den Blick wie Aspekte wirtschaftlicher und globaler Gerechtigkeit. Auch Themen rund um strukturelle Gewalt (Rassismus, Kolonialismus) wurden erst Ende der 1960er Jahre stärker wahrgenommen, als Befreiungstheologien, Unabhängigkeitsbewegungen und die Bürgerrechtsbewegung größere Aufmerksamkeit erlangten. In den Puidoux-Konferenzen ging es um das Friedenszeugnis der Kirche, um die Berechtigung staatlicher Gewalt und die theologische Begründung der Friedensethik.

Die erste Konferenz fand im Stiftungshaus Crêt-Bérard in Puidoux (Schweiz, nahe Lausanne) vom 15. bis 19. August 1955 statt. Zum Thema „Die Herrschaft Christi über Kirche und Staat“ kamen 27 Teilnehmende aus sieben Nationen zusammen. Den Vorsitz führte Heinz Kloppenburg (luth., IFOR), als Sekretär wurde Albert J. Meyer (menn.) bestimmt. Die einzigen weiblichen Teilnehmerinnen der Konferenz waren Percy Bartlett (quäk., IFOR) und Doris Neff (menn.). Nach Vorträgen u. a. von Ernst Wolf (luth.), Götz Harbsmeier (luth.), Jean Lasserre (ref., IFOR) und John H. →Yoder (menn.) sowie zahlreichen Diskussionen wurde ein gemeinsames Ergebnis formuliert. Darin halten die Teilnehmenden fest, dass Christus Herr über Kirche und Staat ist. Die Aufgabe der Kirche sei die Proklamation der Herrschaft Christi und die Teilnahme an Gottes Versöhnungswerk. Christliche Ethik sei nicht dualistisch, sondern finde in der Schrift eine verlässliche Orientierung. Krieg sei immer Sünde. Die Verantwortung der Kirche für Frieden und Gerechtigkeit bestehe in der Inkarnation von Gottes versöhnender Initiative.

Die zweite Konferenz auf Einladung der westfälischen Landeskirche kam in Iserlohn (Deutschland) vom 28. Juli – 1. August 1957 mit fast 70 Teilnehmenden aus sieben Nationen zustande. Während die erste Konferenz die Einheit der Herrschaft Christi festgehalten hatte, ging es nun um Inhalt und Implikationen dieser Einheit. Zum einen wurde die Nachfolge und das Zeugnis der Kirche thematisiert, zum anderen ging es um Gerechtigkeit und Gehorsam gegenüber dem Staat. Ernst Wolf (luth.), Hans-Werner Bartsch (luth.), Paul →Peachey (menn.) und Richard Ullmann (quäk.) u. a. waren die Vortragenden. In einem Bericht für die Landeskirchen wird Wertschätzung für die offene Begegnung und das Zeugnis der Historischen Friedenskirchen zum Ausdruck gebracht. In drei Punkten wird eine klare Übereinstimmung festgestellt: (1) Jesus Christus ist Herr über Kirche und Staat. (2) Christus ruft in die Nachfolge als participatio (nicht imitatio), d. h. Rechtfertigung und Heiligung gehen Hand in Hand. (3) Um des Gekreuzigten willen können Christen nicht weiter Kriegsdienst leisten, sondern sind in ein Leben des Dienstes und Gehorsams gerufen.

Ungefähr 80 Teilnehmende fanden sich zur dritten Konferenz in Bièvres (Frankreich, nahe Paris) vom 2. - 7. August 1960 ein. An dieser Konferenz nahmen einige Gäste aus osteuropäischen, kommunistischen Staaten teil: Josef L Hromádka und Jan M. Lochmann (führende Vertreter der Christlichen Friedenskonferenz, CFK), der lutherische Erzbischof Jaan Kiivit aus Tallin, der Baptist Alexander Karev aus Moskau und der orthodoxe Professor Leo Parijskij aus Leningrad. Das Gesamtthema der Konferenz wurde im Hinblick auf die christliche Verantwortung gegenüber dem Staat zugespitzt: „Die Bedeutung der Herrschaft Christi für unsere Existenz in Staat und Gesellschaft“. Die Vorträge von Joachim Beckmann (un.), Ernst Wolf (luth.), Warren Groff (quäk.) und John H. Yoder (menn.) u. a. riefen lebhafte Diskussionen hervor. Allerdings wurde keine gemeinsame Abschlusserklärung formuliert, auch wenn alle die Absicht hegten, die Gespräche zwischen den unterschiedlichen reformatorischen Traditionen fortzusetzen. Sie waren sich einig, dass dem christlichen Pazifismus in gegenwärtigen theologischen Debatten mehr Raum gegeben werden sollte und dass es ein gemeinsames Anliegen sei, mehr Fachliteratur zum Thema bereitzustellen.

Die letzte Konferenz auf dem Landgut Oud Poelgeest in Leiden (Niederlande) vom 9. bis 14. Juli 1962 hatte 42 Teilnehmende aus zehn Nationen und konzentrierte sich auf das Thema „Quellen einer christlichen Sozialethik“. Die Vorträge hielten Hendrik van Oyen (ref.), André Dumas (ref.), Jan M. Lochmann (un.), Paul Oestreicher (angl.). Trotz engagierter Vorträge und intensiver Diskussionen konnten die entscheidenden hermeneutischen Knoten nicht gelöst werden. Die Teilnehmenden waren sich in grundlegenden Fragen einig, kamen aber bei konkreten Fragestellungen zu unterschiedlichen Bewertungen von historischen Ereignissen und Entscheidungssituationen. Statt einer Abschlusserklärung wurden Auszüge aus den Vorträgen und Diskussionen als Broschüre publiziert.

3. Folgekonferenzen

Aus den Puidoux-Konferenzen entsprang eine vom Ökumenischen Institut in Bossey (Schweiz) gesponserte Konferenz vom 28. Juni bis 3. Juli 1965. Teilnehmende der Puidoux-Konferenzen formulierten als Titel „Gottes versöhnendes Wort unter den Nationen heute“, der im Laufe der Konferenz zu „Gottes versöhnendes Werk unter den Nationen heute“ geändert wurde. Die Konferenz sollte Kirchenverantwortliche aus Ost und West zusammenbringen. Es nahmen fast 90 Personen aus 22 Nationen teil. Ziel war nicht die wissenschaftliche Vertiefung, sondern das Erfassen von Frieden und Versöhnung für kirchliche Lehre und Praxis. Unter den Vortragenden fanden sich bekannte Namen aus den Puidoux-Konferenzen wie Hans-Werner Bartsch, John H. Yoder, Heinz Kloppenburg und Jan M. Lochmann, aber auch Paul Verghese, Vitali Borovoy, Paul Evdokimov, Ernst Wilkens, D. Micheli.

Im Juli 1965 wurde entschieden, keine weitere Puidoux-Konferenz im bisherigen Stil zu organisieren. Stattdessen erhoffte man sich mehr Fortschritte von einer festen Studiengruppe von 12 bis 15 Personen. Unter dem Vorsitz von Reinhard Köster und dem Sekretariat von Heinold →Fast trafen sich einige Teilnehmende der Puidoux-Konferenzen sowie fünf Repräsentanten (H.-E. Tödt, I. Tödt, G. Scharffenorth, U. Duchrow, G. Howe) der Evangelischen Studiengemeinschaft FEST in den Jahren 1967–1969 jeweils im Januar zu einem Gespräch in Höchst/Odenwald. Die FEST hatte im Jahr 1966 das Forschungsprojekt „Beiträge von Theologie und Kirche zum Frieden“ aufgelegt und wurde deshalb zu den Gesprächen eingeladen. Die Studiengruppe sollte erstens die christologische Grundlegung von Ethik, zweitens die Bedeutung der Rechtfertigungslehre für die Ethik, und drittens – eine Problemstellung aus dem Forschungsprojekt der FEST – Ethik im Hinblick auf die wissenschaftlich-technische Welt beschreiben. Die Gruppe stellte sich also in erster Linie hermeneutischen Fragen und konnte die Divergenzen in der Begründung von Friedensethik klarer erfassen. In welcher Weise der Riss zwischen Christus und aktueller Situation, zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen individuellem Gewissen und (hermeneutischer) Gemeinschaft der Kirche, zwischen Verstand und Heiligem Geist, zwischen eschatologischer Geschichtsbestimmung und aktuellem politischem Zeugnis u. a. überwunden wird, hängt von christologischen, anthropologischen, ekklesiologischen und gesellschaftsanalytischen Setzungen bzw. Traditionen ab. Durch die Arbeit der Studiengruppe konnten die jeweiligen Voraussetzungen und deren Implikationen verdeutlicht werden.

Insgesamt wurden durch die Puidoux- und ihre Folgekonferenzen Sach- und Beziehungsgrundlagen gelegt, die bis in die Gegenwart die überkonfessionelle Ausarbeitung einer ökumenischen Friedensethik fruchtbar bestimmen.

Literatur

Dale Aukerman, The Sources of Christian Social Ethics: A Report on the Puidoux IV Conference, 9. - 14. July 1962 in Oud Poelgeest, Holland. Puidoux Secretariat, 1963. - Donald F. Durnbaugh, On Earth Peace: Discussions on War/ Peace Issues Between Friends, Mennonites, Brethren and European Churches 1935–1975, Elgin, Ill., 1978. - Fernando Enns, Friedenskirche in der Ökumene: Mennonitische Wurzeln einer Ethik der Gewaltfreiheit, Göttingen 2003. - Heinold Fast, Die Puidoux-Gespräche: Die theologischen Grundlagen des Friedensauftrages der Kirchen, in: Mennonitisches Jahrbuch, 1988, 56–59. - „Life and Work“, 24.267 – 24.272 und 24.2.022, Archiv des Ökumenischen Rates der Kirchen. - Puidoux Theological Conference. Bericht der zweiten Konferenz, Iserlohn, 28. Juli-August 1957. - Puidoux Theological Conference. The Lordship of Christ Over Church and State; Report Puidoux Conference 15–19 August 1955. - Ernst Wolf, Puidoux – Theologische Konferenzen der ‚Historischen Friedenskirchen' (Quäker, Mennoniten, Brethren) und landeskirchlicher Theologen über friedens- und gesellschaftspolitische Fragen: Tagungsberichte und Materialien sowie Schriftwechsel, 1955- 1965. N 1367/263. Bundesarchiv Koblenz. - John H. Yoder, Christian Attitudes to War, Peace, and Revolution, herausgegeben von Theodore J. Koontz und Andy Alexis-Baker, Grand Rapids, MI, 2009.

Joel Driedger

 
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