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Kraemer, Gustav
geb. am 9. November 1863 in Wissen a. d. Sieg, Deutschland, gest. am 13. Januar 1948 in Schladen a. d. Sieg; von 1903 bis 1937 Pfarrer der Mennonitengemeinde →Krefeld.
Gustav Kraemer, der einer evangelischen Familie entstammte, studierte in Jena und in Bonn Theologie, eine erste Hilfspredigerstelle bekleidete er ab 1887 drei Jahre lang in der evangelischen Gemeinde zu Gerresheim bei Düsseldorf. Infolge von Differenzen mit seinem dogmatisch ausgerichteten Vorgesetzten reichte er den Abschied ein, studierte ein weiteres Jahr in Berlin und amtierte anschließend von 1891 bis 1901 als evangelischer Pastor in Dachwig bei Erfurt. Aus gesundheitlichen Gründen schied er aus dem Dienst aus und zog mit seiner Ehefrau Lina, geb. Altpeter, und seinen beiden Kindern nach Bonn, wo er zeitweilig im vorzeitigen Ruhestand lebte. Im Juli 1903 übernahm Kraemer die Vertretung für den erkrankten Pastor Ernst Weydmann in der Krefelder Mennonitengemeinde, am 30. November wurde er vom Konsistorium zu dessen Nachfolger gewählt, am 20. Dezember 1903 trat er das Amt an.
Kurt von Beckerath charakterisierte Gustav Kraemer in der Gedächtnisrede als „Erwecker“. Kraemers Anliegen war ein lebendiges Christentum, ein gelebtes Christentum. Die Gemeinde, die er vorfand, war erstarrt und kaum unterscheidbar von der evangelischen Landeskirche. Kraemer wollte einen Prozess der Selbstbesinnung auf das spezifisch Mennonitische herbeiführen und gab zu diesem Zweck von 1905 bis 1908 die Monatsblätter der Mennonitengemeinde Crefeld heraus, deren Artikel er weitgehend selbst verfasste. In dem Periodikum vertrat er den Standpunkt, dass die Mennoniten geschichtlich eine Avantgarde-Rolle einnehmen, weil sie durch die Erwachsenentaufe (→Taufe) die freie und bewusste Entscheidung zum Glauben garantieren. Dergestalt haben sie Teil an einem Prozess der →Aufklärung, dessen Zweck die Herausbildung der freien Persönlichkeit ist. Das Mennonitentum stimmt mit den Werten des Liberalismus überein, indem es die Freiheit des Individuums fördert. Obwohl Kraemer die Besonderheiten des Mennonitentums reflektiert und der Gemeinde vor Augen führt, ist das wahre Christentum für ihn nicht an eine bestimmte Konfession gebunden, auch nicht an ein Mennoniten-Sein. Doch bietet dieses eine stärkere Gewähr, dass sich eine liberale Gewissensfreiheit entfalten kann, dies zum einen durch die geringere Beachtung von Äußerlichkeiten, zum anderen durch die flachere Hierarchie, die den Mennonitengemeinden zu eigen ist. Des Weiteren besteht das wahre Christentum nicht nur aus einer inneren Einstellung, sondern muss sich auch praktisch äußern. Praktisches Christentum sollte vor allem in der Armenpflege bekundet werden, wobei die Unterstützung des Bedürftigen als Hilfe zur Selbsthilfe dienen und ihn zu einer selbstständigen Lebensweise befähigen sollte.
Sowohl in der gesellschaftlichen Entwicklung der Kaiserzeit als auch der Weimarer Republik sahen Kraemer und führende Mitglieder des Krefelder Konsistoriums eine fortschreitende Verweltlichung und Entchristlichung am Werk, von der vor allem die gebildeten und wohlhabenden Schichten betroffen waren und der entgegengewirkt werden musste. Dies geschah durch eine offene und offensive argumentative Auseinandersetzung mit den Vertretern von Wissenschaft und Freidenkertum, bei der die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religiosität herausgearbeitet wurde. Als Folge des Kulturkampfes galt Kraemer die Gesellschaft der Kaiserzeit gespalten in die konfessionellen Lager, eine Überwindung der Zerrissenheit erblickte er in dem Militärdienst, womit gleichzeitig eine charakteristische mennonitische Position, die zuvor schon zunehmend aufgeweicht worden war, definitiv geräumt wurde. Entsprechend tauchte in den Krefelder Gemeindestatuten von 1912 das Thema Militärdienst überhaupt nicht mehr auf, vermutlich, weil seine Ableistung als selbstverständlich erachtet wurde (→Wehrlosigkeit). Die Auszeichnung von am Ersten Weltkrieg teilnehmenden Gemeindemitgliedern mit Eisernen Kreuzen wurde begrüßt, pazifistische Grundsätze wurden aufgegeben. Die nationale Einheit wurde über religiöse Grundansichten gestellt.
Anders als die „gottlose“ Weimarer Republik, die durch das Parteiengezänk die Zerrissenheit der Nation beförderte und von Kraemer nur negativ gesehen wurde, stand das nationalsozialistische System in seinen Augen im Einklang mit christlichen Grundsätzen und garantierte deren Erhalt und praktische Umsetzung (→Drittes Reich). Das Führerprinzip wurde von ihm bejaht, in Hitler sah er den Errichter einer neuen Volksgemeinschaft und den Erfüller eines positiven Christentums. Antisemitisch war Kraemer jedoch nicht eingestellt: Nach der „Reichskristallnacht“ soll er, entsetzt über das Geschehen, den Oberrabbiner der jüdischen Gemeinde besucht haben. In der in Heubuden im Januar 1938 gehaltenen und anschließend vom Konsistorium gedruckten Rede Wir und unsere Volksgemeinschaft bediente er allerdings auch antisemitische Klischees, wenn er den Kampf gegen die Juden als von diesen selbstverschuldete Strafe Gottes bis in die spätere Generation interpretierte. Kritik am Nationalsozialismus wurde in der Hinsicht geübt, dass er die Menschen der Religion entfremdete, indem er zum Beispiel Schüler dem Religionsunterricht entzog. Auch die Bestrebungen der Regierung, eine gleichgeschaltete Reichskirche zu schaffen, wurden von Kraemer als Bedrohung der freikirchlichen Autonomie (→Freikirche) verstanden und abgelehnt, ebenso aber auch Gegenmaßnahmen der →Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden, die ihre Gemeinden auf ein gemeinsames →Bekenntnis festlegen wollte.
Mittlerweile 71 Jahre alt schlug Kraemer im November 1934 Dirk →Cattepoel zum Nachfolger vor. Dieser wurde ihm im darauffolgenden Jahr als Hilfsprediger beigesellt und löste ihn im Januar 1937 als Pastor ab. Auch nach seiner Ablösung behielt Kraemer eine einflussreiche Stellung innerhalb der Gemeinde. Zum einen blieb er im Pastorat wohnen und übte weiterhin pfarramtliche Dienste aus, wenn es Gemeindemitglieder wünschten, zum anderen bekleidete er die Funktion des Ältesten, der dem neuen Pastor beratend – und kontrollierend – zur Seite stand. Ferner vertrat er Krefeld in der Vereinigung der Deutschen Mennonitengemeinden. Die theologischen Differenzen zwischen Cattepoel und Kraemer, die gelegentlich sichtbar geworden waren und sich vor allem auf eine unterschiedliche Interpretation christologischer Grundfragen bezogen, verstärkten sich in den darauffolgenden Jahren. Als Cattepoel im Frühjahr 1942 zum Militärdienst eingezogen wurde, übernahm Kraemer seine Vertretung und betreute bis zum Kriegsende die Krefelder Gemeinde. Nachdem am 22. Juni 1943 die Mennonitenkirche, das Pastorat und das Waisenheim infolge der Bombardierung ganz zerstört worden waren, zog Kraemer jedoch aus Krefeld fort und kehrte nur im monatlichen Turnus zurück, um die Amtsgeschäfte durchzuführen.
Veröffentlichungen (Auswahl)
Monatsblätter der Mennonitengemeinde Crefeld, Krefeld 1905 – 1908. - Wahrhaftigkeit, Neue Folge der Monatsblätter der altevangelischen Mennonitengemeinde Krefeld, Heft 1, 1909. - Blätter aus der Mennoniten-Gemeinde Krefeld, Krefeld 1928. - Ansprache am Silvesterabend 1934, Krefeld 1934. - Wir und unsere Volksgemeinschaft, Krefeld 1938. - Ansprachen bibliographisch erfasst, in: Wolfgang Froese (Hg.), Sie kamen als Fremde (s. u.), 369 ff.
Literatur
Pastor Kraemer Gedenkschrift, hg. vom Konsistorium der Mennoniten-Gemeinde zu Krefeld, Krefeld 1948. - Frank Deisel, Zwischen Innerlichkeit und praktischem Christentum. Die Krefelder Mennoniten in der Zeit des Kaiserreichs (1871 – 1918), in: Wolfgang Froese (Hg.), Sie kamen als Fremde. Die Mennoniten in Krefeld von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stadtarchiv Krefeld in Verbindung mit der Mennonitengemeinde Krefeld, Krefelder Studien 8, 1995, 157–204. - Beate Kosterlitzky und Friedrich Zunkel, Krise und Versagen. Die Krefelder Mennoniten in der Weimarer Republik und während des „Dritten Reiches“ (1919–1945), in: Froese (Hg.), a. a. O., 205–249.
Frank Deisel