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Obrigkeit
(s. auch →Staat)
„Obrigkeit“ ist eine Kategorie, die politische Herrschaft im Zeitalter vor der →Moderne (Vormoderne, Frühe Neuzeit) bezeichnet. In der Regel wird sie vom modernen Herrschaftsverständnis, das mit dem Begriff „Staat“ zum Ausdruck gebracht wird, abgesetzt. In der Vorstellung des Mittelalters war die europäische Gesellschaft hierarchisch in Ständen organisiert (Ständepyramide, die sich von oben nach unten verbreiterte). In dieser Sicht gehörten geistliche und weltliche Herrscher zu zwei gesellschaftlichen Schichten, die vom gemeinen Volk (Bauern und Bürgern) getrennt und ihm überlegen waren. Sie standen auf einer Stufe des Seins, die dem „summum ens“ (Gott, dem höchsten Sein) näherstanden als Bauern und Bürger. Unter den Bauern und Bürgern fristeten die Unterschichten ihr Leben, die nicht mehr als ein Stand wahrgenommen wurden. In einer wohl geordneten Gesellschaft wirkten alle drei Stände harmonisch miteinander und füreinander: Die Geistlichen beteten für das Wohlergehen aller, die adligen Herren gewährten jedermann Schutz und versorgten die Bauern beispielsweise mit Land als deren Existenzgrundlage (Grundherrschaft), und Bauern und Bürger (Handwerker, Kaufleute) arbeiteten für ihre Herrschaft und waren ihr treu ergeben. Der Stand der Geistlichen hat die Reformationszeit in katholischen Territorien überlebt, während der reformatorische →Antiklerikalismus und das Ideal vom Priestertum aller Gläubigen zum Ende des geistlichen Standes in den protestantischen Territorien führten.
1. Die Bereitschaft der Täufer, sich in der Ständegesellschaft unterzuordnen
Jahrzehnte lange Forschungen zum reformatorischen Antiklerikalismus, zur Rolle der Täufer in Kirche und Gesellschaft und zu anderen radikalen Reformern haben die Schwächung des geistlichen Standes (Klerus) ausreichend dokumentiert. Doch der Aufstand der →Täufer hatte im reformatorischen Aufbruch nicht zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Ständegesellschaft geführt, so entschieden sie allerdings die traditionelle Einheit von Kirche und Obrigkeit ablehnten, von sich aus auf die Wahrnehmung obrigkeitlicher Ämter verzichteten und sich weigerten, Wehrdienste zu übernehmen. Darin sahen die Zeitgenossen einen Angriff nicht nur auf die weltliche Obrigkeit, sondern auch auf die Ständeordnung allgemein. In beiden Fällen hatten die Täufer nicht den Sinn von weltlicher Obrigkeit und geordneten Verhältnissen im gesellschaftlichen Bereich in Zweifel gezogen. „Außerhalb der Vollkommenheit Christi“ hatten sie eine von Gott verordnete Aufgabe zu erfüllen (z. B. Schleitheimer Artikel, in: Heinold Fast (Hg.), Glaubenszeugnisse der Täufer in der Schweiz, Bd. 2, 31). Wohl hatten die Täufer unter obrigkeitlicher Strafverfolgung bis zum Martyrium hin wegen ihrer nonkonformistischen Religiosität gelitten (→Verfolgung), dennoch versuchten frühe Täufer beispielsweise oft, Adlige oder andere weltliche Autoritäten (etwa Dorfobrigkeiten oder den Magistrat in den Städten) als Verbündete in ihrem Kampf gegen die klerikale Hierarchie zu gewinnen (vgl. James M. Stayer, The Anabaptists and the Sword, 1976, der die Vielfalt täuferischer Einstellungen zur weltlichen Obrigkeit untersucht hat). Auch wenn protestantische Landesherren den Klerus nicht als eigenen Stand mit besonderen Privilegien anerkannten, neigten sie doch dazu, die mittelalterliche Idee zu akzeptieren, dass kirchliche Einheit eine wichtige Grundlage für eine gute soziale und politische Ordnung sei. Nach den ersten Jahrzehnten der Reformation suchten neue Generationen von Täufern nach Wegen zu überleben und als religiöse Nonkonformisten in Territorien zu gedeihen, die von Katholiken, Lutheranern und Calvinisten kontrolliert wurden. Eine Strategie, die von allen frühneuzeitlichen Täufergruppen genutzt wurde, war, öffentlich ihre Treue Gott gegenüber zu betonen (nicht gegenüber einer Landeskirche), aber auch ihre Loyalität gegenüber weltlichen Autoritäten in allen Angelegenheiten zu erklären, die nicht den Geboten Gottes entgegenstanden. Es war für täuferische Anführer nicht unüblich, diese Loyalität gegenüber den weltlichen Autoritäten in Glaubensbekenntnissen oder anderen religiösen Dokumenten festzuschreiben. Auch die Annahme besonderer Privilegien aus der Hand der Landesherren verstärkte die Rolle der Täufer als loyale, gehorsame Untertanen. Diese Privilegien garantierten den Täufern nicht moderne Rechte, wohl aber Rechte, die (wie die Pflichten) an die Person eines adligen Herrn gebunden waren. Otto Brunner sprach von einem vormodernen Personenverbandsstaat (Otto Brunner, Land und Herrschaft, 1965). Wenn ein neuer Herrscher die Macht übernahm, mussten die Täufer um eine Bestätigung oder Erneuerung ihrer Privilegien nachsuchen. Mit anderen Worten, frühneuzeitliche Täufer anerkannten ihren untergeordneten Status als Untertanen in einer hierarchisch gegliederten Ständegesellschaft (→Konfessionalisierung).
2. Täufer und die Erosion obrigkeitlicher Autorität
Wie die Forschung zum Täufertum nach der Reformationszeit zeigt, trugen verschiedene Faktoren zur Schwächung der persönlichen Autorität der Landesherren bei. Ein Faktor war die schnelle Verstädterung in den Niederlanden. Niederländische Taufgesinnte gehörten zur bürgerlichen Elite der schnell wachsenden frühneuzeitlichen Flecken und Städte in Holland, Friesland und anderen niederländischen Provinzen. In diesen städtischen Zentren entwickelten die Holländer eine starke republikanische Ideologietradition, die bürgerliche Freiheit von Unterdrückung forderte. Ein zweiter Faktor war die geistige Tradition der europäischen Mystik und des Spiritualismus. Diese Tradition neigte dazu, die individuelle Autonomie der Gläubigen herauszustellen und Ideen der Religionsfreiheit (gelegentlich auch politischer Freiheit) zu propagieren. Trotz der langen, wohl etablierten Bekenntnistradition der niederländischen Mennoniten übten spiritualistische Ideen und Ideale weiterhin eine bemerkenswerte Anziehungskraft auf Taufgesinnte in den Niederlanden während der frühen Neuzeit aus. Ein dritter Faktor war die Verbreitung der →Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Aufklärerische Ideen trugen manchmal zur Legitimierung absolutistischer Herrscher des Alten Regimes bei, andere jedoch untergruben die Autorität der Ständegesellschaft.
3. Revolutionen und die Entstehung moderner demokratischer Staatsverfassung
Die alteuropäische Ständegesellschaft kam mit den demokratischen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts zu ihrem Ende. Danach gab die Organisation der politischen Herrschaft den Raum für ökonomische oder klassenspezifische Hierarchien frei, die mit der staatlichen, konstitutionellen Organisation politischer Herrschaft kombiniert wurden. In der neuen demokratischen, konstitutionellen Ordnung Westeuropas und Nordamerikas hatten die Staatsbürger Rechte als Individuen, nicht als Mitglieder einer Körperschaft. Die Folge für die Mennoniten war das Ende besonderer Befreiungen vom religiösen Eid oder vom Wehrdienst (→Moderne, Abs. 6).
Weil solche Faktoren in den Vereinten Provinzen der Niederlande stark waren, wird kaum überraschen, dass Holland das Zentrum einer der ersten modernen demokratischen Revolutionen in Europa wurde. Die Patriotische Bewegung der 1780er Jahre hatte viele Mennoniten in ihren Reihen, sogar in leitenden Positionen. Mennonitische Prediger wie François Adriaan van der Kemp waren unter den lautstarken Vorkämpfern für die Trennung von Kirche und Staat ebenso wie für das volle demokratische Stimmrecht aller männlichen Staatsbürger. Das Engagement der niederländischen Mennoniten in den aufklärerischen →Gesellschaften für soziale, wirtschaftliche und kulturelle Verbesserungen waren möglicherweise der Übungsraum für diese Revolutionäre. Mehrere Jahrzehnte später waren wieder Mennoniten wie Hermann von →Beckerath (Krefeld) unter den Anführern einer anderen demokratischen Revolution in den 1840er Jahren (s. mehr dazu →Aufklärung, Abs. 4). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Institutionen des Alten Regimes überholt, teilweise hat auch der täuferisch-mennonitische Aktivismus dazu beigetragen.
Bibliografie
Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, 5. Aufl., Wien 1965. - Michael Driedger, Anabaptists and the Early Modern State. A Long-Term View, in: John D. Roth und James M. Stayer (Hg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700, Leiden 2007, 507–544. - Heinold Fast (Hg.), Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, 2. Bd. : Ostschweiz, Zürich 1973. - Hans-Jürgen Goertz, Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1995. - Astrid v. Schlachta, Gefahr oder Segen? Die Täufer in der politischen Kommunikation, Göttingen 2009. - James M. Stayer, Anabaptists and the Sword, 2. Aufl., Lawrence, Kans., 1976. - James Urry, Mennonites, Politics and Peoplehood: Europe, Russia, Canada, 1525–1980, Winnipeg 2006.
Michael Driedger