Inhaltsverzeichnis
Soziologie (der Mennoniten)
1. Begriff und wissenschaftliche Disziplin
Der Begriff „Soziologie“ geht auf das französische Wort „Sociologie“ zurück und ist nach einer enzyklopädischen Auskunft „Wissenschaft vom Ursprung, von der Entwicklung, der Organisation und Funktion menschlicher Gesellschaft“ (Webster´s Encyclopedia, 1996). Obwohl die Gesellschaft der Menschen oft beobachtet und theoretisch auf den Begriff gebracht wurde, angefangen bei den Griechen des klassischen Altertums, vor allem bei Plato und Aristoteles, hat sich das Bemühen um die Gesellschaft erst um 1835 in Europa mit der Sociologie positive August Comtes (1789–1857) zu einer Wissenschaft entwickelt. Danach entstanden zahlreiche „Gesellschaftstheorien“, mechanistische, geographische, biologische, rassistische, psychologische, evolutionsgeschichtliche und andere. Sie verbanden sich mit den Namen eines Herbert Spencer (1820–1903), Emile Durkheim (1858–1917), Max Weber (1864 – 1920) u. a. (Sorokin, Contemporary Sociological Theories, 1928) und bildeten sich zunächst im Schoße anderer Wissenschaften aus, bevor sie Selbstständigkeit erlangten: in der Nationalökonomie, der Religionswissenschaft, der Sozialphilosophie und später der Ethnologie. Die meisten europäischen Soziologen folgten der positivistischen Tradition, in der von der Annahme „ewiger Gesetze“ ausgegangen wurde, die in der menschlichen Gesellschaft wirksam sind und wissenschaftlich erhoben und erläutert werden können. Inzwischen entwickelte sich die Soziologie besonders stark in Nordamerika und strahlte auf den europäischen Wissenschaftsbetrieb zurück. Zunächst wurde der positivistische Trend aufgenommen, dann aber bildeten sich verschiedene Richtungen aus, in denen jeweils eigene Akzente gesetzt wurden. Auf unterschiedliche Weise wurde von der Freiheit menschlicher Wahl in der Gestaltung der Gesellschaft ausgegangen oder von den Existenzbedingungen, die einen entscheidenden Einfluss auf die Sozialisation der Menschen ausübten (vgl. Jonathan H. Turner, The Structure of Sociological Theory, 1982, 21 f.). Heute lassen sich verschiedene Grundkonzepte der Soziologie erkennen, die aus den relativ einfach konzipierten Anfängen zu einem höchst komplexen Wissenschaftsgeflecht herangereift sind: Positivismus, kritischer Rationalismus, marxistisch orientierte Sozialwissenschaft, Strukturalismus, kybernetische Wissenschaft, Systemtheorie und historische Sozialwissenschaft, um nur diese Richtungen zu nennen. Im Zuge dieser theoretischen Grundkonzepte ist die Soziologie in zahlreiche Unterdisziplinen aufgefächert worden: Religions- und Kultursoziologie, Wissenssoziologie, Jugend- und Familiensoziologie, Soziologie der Medizin etc. In die Tendenz, die Anwendungsbereiche auszuweiten, fügt sich auch die „Soziologie der Mennoniten“ ein. Sie bemüht sich um die sozialen Probleme in den Gemeinden der Täufer und Mennoniten und um ihr Verhältnis zu der sie umgebenden Gesellschaft. Ebenso lenkt sie die Aufmerksamkeit auf den Anteil, den mennonitische Soziologen selbst an der sozialwissenschaftlichen Erforschung ihrer konfessionellen Vorfahren und Zeitgenossen haben.
2. Anfänge einer Soziologie des Täufer- und Mennonitentums
Die Soziologie der Mennoniten fand ihren ersten Ausdruck in Deutschland, wo zwei soziologische Traditionen besonders stark ausgebildet waren, nämlich die Richtung Max →Webers und Ernst →Troeltschs sowie die sogenannte Frankfurter Schule. Beide Schulrichtungen prägten später den soziologischen Zugriff auf die „mennonitische Gesellschaft“ (Calvin Redekop, Mennonite Society, 1989) und das Leben der Mennoniten.
(1) Max Weber behandelte Täufer und Mennoniten in seinen einflussreichen Studien zur Protestantischen Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904), in denen er die Mennoniten einem besonderen „Sekten-Typ“ zuordnete, der sich durch eine „innerweltliche Askese“ auszeichnete (Sekte war in den Augen Webers kein negativ eingeschätzter, sondern ein wertneutraler Begriff). Ernst Troeltsch nahm die Sektentypologie Webers auf und arbeitete sie in den Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) aus. Troeltsch und Weber übten einen großen Einfluss auf die Einschätzung der Täufer und Mennoniten weltweit aus. Sowohl mennonitische Wissenschaftler als auch Gemeindemitglieder hatten mit dem negativen Sektenvorwurf und seinen Implikationen für die Identität der eigenen Konfession zu kämpfen und fühlten sich jetzt durch den verwissenschaftlichten Sektenbegriff gesellschaftlich aufgewertet.
Die meisten europäischen und nordamerikanischen Soziologen, die sich mit den Täufern oder Mennoniten beschäftigten, nahmen entweder Webers und Troeltschs Begriffe sowie Theorien auf oder bemühten sich, eigene Deutungen und alternative Orientierungen zur Diskussion zu stellen (Redekop, Mennonite Society, 329–341: „The Mennonites: A Typological Analysis“). So war denn eine der ersten Studien zum mennonitischen Leben in der Schweiz, nämlich Ernst Corrells Dissertation über Das schweizerische Täufermennonitentum (1525), Max Weber und Ernst Troeltsch gewidmet. In dieser historisch-soziologischen Analyse machte Correll sich die Sektentypologie seiner Lehrer zunutze, kam aber zu dem Schluss, dass der Geist des Kapitalismus, den Weber im Mennonitentum wirksam sah, bei den Mennoniten nicht am Werk gewesen sei, sondern dass es ein technologisch-rationaler Geist war, der es den Mennoniten erlaubte, in landwirtschaftlichen Nischen zu überleben. Die größere Untersuchung von Jean Séguy über die Mennoniten in Frankreich, Les Assemblées Anabaptistes-Mennonites de France (1977), folgt dagegen der Sektentypologie von Weber und Troeltsch.
Emerick K. Francis, ebenfalls ein in Deutschland ausgebildeter Soziologe, wich in seiner Untersuchung über die Mennoniten in der Ukraine und in Kanada, In Search of Utopia: The Mennonites in Manitoba (1955), von der Sektentypologie Webers und Troeltschs ab und arbeitete den utopischen Charakter der Mennonitengemeinden heraus (Redekop, Mennonite Society, 310–328: „The Utopian Basis of Mennonite Identity“). In neuerer Zeit hat sich Peter M. Hamm des Sekten-„Problems“ in seiner Untersuchung über Continuity and Change Among the Canadian Mennonite Brethren (1987) angenommen. Nicht die sogenannte Protestantismusthese, wohl aber Webers Sektenbegriff spielt teilweise eine Rolle bei der groß angelegten Interpretation der Wirtschaftskraft Krefelder Mennoniten: Peter Kriedte, Taufgesinnte und großes Kapital (2007). Gelegentlich hat sich in neueren Untersuchungen auch die Aufmerksamkeit von der Protestantismusthese auf die „Fremdenthese“ Werner Sombarts verschoben: z. B. bei Ernst W. Schepansky, Mennoniten in Hamburg und Altona (1980), und Hans-Jürgen Goertz, Religiöser Nonkonformismus und wirtschaftlicher Erfolg (2007).
(2) Die andere soziologische Tradition, für die in neuerer Zeit die sogenannte Frankfurter Schule steht, wurde vom Marxismus geprägt und unterzog alle sozialen Verhältnisse einer grundsätzlichen Kritik, in denen eine Schicht oder Klasse der Bevölkerung durch eine andere unterdrückt oder ausgebeutet wurde (Turner, The Structure of Sociological Theory, 417). Im Umkreis der Frankfurter Schule sind keine Untersuchungen zu Täufern und Mennoniten entstanden, wohl aber wurde von ihr auch im Westen die Aufmerksamkeit auf die marxistische Deutung der Reformation gelenkt, wie sie vor allem mit der „Theorie der frühbürgerlichen Revolution“ in der Deutschen Demokratischen Republik intensiv betrieben wurde. So erschienen die Täufer und Mennoniten in einem helleren Licht, da besonders die frühen Täufer randständige und unterdrückte gesellschaftliche Gruppen darstellten (Abraham Friesen, Reformation and Utopia, 1974; Walter Sawatsky, Art. Marxism, 343 f.). Im Gefolge von Friedrich Engels und Karl Kautsky interpretierten Gerhard Zschäbitz die mitteldeutschen Täufer und Gerhard Brendler die Täufer zu Münster als Vorläufer des modernen „Klassenkampfes“ (→Revolution, frühbürgerliche). Nicht zuletzt auch unter dem Eindruck dieser sozialistischen Tradition ist in der →Täuferforschung ein besonderes Interesse an den sozialen Ursprüngen des Täufertums erwacht (Ernst Correll, Paul Peachey, Claus-Peter Clasen, James M. Stayer, Hans-Jürgen Goertz). Waren nordamerikanische Soziologen mit der Annahme sozialer und wirtschaftlicher Ursprünge des Täufertums eher zurückhaltend, so haben neuerdings mennonitische Historiker und Soziologen begonnen, auch auf die zumindest teilweise sozialen und wirtschaftlichen Entstehungsbedingungen zu achten, wie sie den Charakter der täuferischen Bewegungen und mennonitischen Gemeinden prägten – oft im Gespräch mit der marxistischen Forschung und mit wissenssoziologischen Erklärungsmodellen (Hans-Jürgen Goertz, History and Theology: A Major Problem of Anabaptist Research Today 73, 1979, 177–188; Calvin W. Redekop, The Sociology of Mennonite Identity: A Second Opinion, 1988, 173–192; Redekop, Krahn und Steiner (Hg.), Mennonite Faith and Economics, 1994).
3. „Mennonitische Soziologie“ — ein Überblick
Mennonitische Soziologen sind gewöhnlich mehr von ihrer akademischen Umgebung als von ihrer Glaubensgemeinschaft geprägt worden, so dass es eigentlich keine besondere „mennonitische Soziologie“ gibt. Es ist also mehr die Thematik, die Gemeinden der Täufer und der Mennoniten, als die Konfessionalität der Soziologen, die diesen Begriff rechtfertigt (Leo Driedger und Calvin Redekop, Art. Sociological Studies, 836 f.). Ausbildung und Interessen der mennonitischen Soziologen sind also den herkömmlichen Interessen des wissenschaftlichen Fachs gefolgt, nämlich der soziologischen Theorie, Studien zu Demographie und Gemeinde, Analyse sozialer Strukturen (Organisationen, Analyse der Institutionen, der gesellschaftlichen Schichten und des sozialen Wandels) und kulturellen Studien (besonders zu Religion und ethnischen Gruppen). Soziologische Arbeit ist unter Mennoniten in Europa kaum über das Anfertigen von Staatsexamens- und Magisterarbeiten vor allem zu Themen wie Mennoniten in Südamerika oder mennonitische Rückwanderer aus der Sowjetunion hinausgekommen.
a) Demographie- und Gemeindestudien
Dieses Feld ist eines der wichtigsten Untersuchungsfelder für eine mennonitische Soziologie, zumal es nicht von philosophischen Positionen abhängig ist und im Sinne empirischer Sozialforschung bearbeitet werden kann. Nach Christian Neffs müssten die Voraussetzungen für eine demographische Soziologie 1525 in Zürich entstanden sein, als der reformierte Prädikant Johannes Brennwald auf Anraten Ulrich Zwinglis eine Liste getaufter Gemeindemitglieder zu führen begann. Neff bemerkte, dass die Schweizer Täufer „der Grund für die Einführung von Kirchenbüchern“ gewesen seien (Neff, Art. Kirchenbücher, in: Mennonitisches Lexikon, Bd. 2, 495). Die „Kirchenbücher“ der Mennoniten in der Schweiz, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden waren, wie Neff ausführt, die Quellengrundlage für die soziologische Forschung bis ins späte 19. Jahrhundert. Das berühmteste Beispiel ist das hutterische Geschichts-Buch, das u. a. Berichte von Verfolgungen und Martyrien enthält (John Hostettler, Hutterite Society, 1974, 305 ff.). In Deutschland wurde das Material aus mennonitischen Kirchenbüchern vor allem in Untersuchungen zur Siedlungsgeschichte und zur Ahnenforschung bzw. Sippenkunde der Mennoniten genutzt (→Genealogie).
Die demographischen Studien und die Untersuchungen zur Gemeindegeschichte erstreckten sich auf Übersichten zum konfessionellen Mitgliederbestand, auf die Glaubensanschauungen und Verhaltensmuster der Mennoniten und die Veränderungen, die auf Grund der Wanderungen vom Land in die Stadt zustande kamen. So war das Yearbook (ab 1905) beispielsweise das offizielle „Kirchenbuch“, das statistisches Material und Informationen von dem Gemeinden enthält. Die Mennonite Church rief 1947 eine Mennonite Research Foundation ins Leben und gab 1950 eine Studie zu allen mennonitischen Gemeinden mit dem Titel Mennonite Family Census in Auftrag. Die Mennonite General Conference hielt Schritt und veröffentlichte das General Conference Fact Book of Congregational Membership (Calvin Redekop, Measuring the Mennonite Spiritual Journey, 2009, 618–639).
Intensiver haben sich mennonitische Soziologen mit demographischen Fragen beschäftigt. 1972 wurde eine umfangreiche Studie von fünf größeren mennonitischen Gruppierungen und der Kirche der Brüder in Auftrag gegeben und von J. Howard Kauffman und Leland Harder unter dem Titel Anabaptists Four Centuries Later (1975) veröffentlicht. Nach einem zufälligen Auswahlprinzip bei den Befragungen versuchten beide Soziologen Glauben und Praxis der fünf Denominationen zu beschreiben und die gängigen demographischen Daten wie Geburten, Todesfälle, Rückgang der Mitgliederzahlen usw. zu erfassen und auszuwerten. 1989 führte eine noch umfangreichere Studie, die von mehreren mennonitischen Organisationen angeregt und gefördert wurde, diese Übersicht weiter (J. Howard Kauffman und Leo Driedger, The Mennonite Mosaic: Identity and Modernization, 1991). Schließlich wurde 2005/2006 eine noch aufwendigere und komplexere Übersichtsstudie von der Mennonite Church in den USA auf den Weg gebracht (Conrad Kanagy, Roadsigns for the Journey. A Profile of Mennonite Church, 2007).
b) Soziale Organisationen und Strukturen
Unter den frühen soziologischen Studien über die mennonitische Bevölkerung in Europa ist neben der bereits erwähnten Untersuchung Ernst Corrells zum schweizerischen Täufermennonitentum auch Fritz Heges Beruf und Berufung des Mennonitischen Landwirts (1954), eine im wesentlichen deskriptive Abhandlung mit einigen schlussfolgernden Beobachtungen, zu zählen, ebenso die Dissertation des nordamerikanischen Mennoniten Paul Peachey über Die soziale Herkunft der Schweizer Täufer in der Reformationszeit (1954), in der gezeigt werden konnte, dass die Täufer sich aus ganz verschiedenen sozialen Milieus rekrutierten. Zahlreiche soziologisch wertvolle Materialien über die Mennoniten in Ost- und Westpreußen haben Hermann Gottlieb Mannhardt in seiner Darstellung über Die Danziger Mennonitengemeinde (1919) und Horst Penner in seiner Abhandlung über Die ost- und westpreußischen Mennoniten in ihrem religiösen und sozialen Leben, in ihren kulturellen und wirtschaftlichen Leistungen (1978) für die Zeit von 1525 bis 1772 zusammengetragen. Damit wurde die sozialgeschichtliche Untersuchung Karl-Heinz Ludwigs Zur Besiedlung des Weichseldeltas durch die Mennoniten (1961) in manchem Detail ergänzt, fachwissenschaftlich müsste aber dieses Material noch einmal einer gründlichen Analyse unterzogen werden.
Soziologische Analysen der „Mennonite Society“ in Nord- und Südamerika waren wesentlich anspruchsvoller und haben eine Fülle von Informationen und Interpretationen zusammengetragen (Mennonitisches Jahrbuch 1954). Der Schwerpunkt dieser Analysen verlagerte sich von den demographischen Aspekten zu Fragen sozialer Strukturen und Institutionen. Dieser Wechsel ging auf den allmählichen Verfall des traditionellen ländlichen Lebens im Zuge allgemeiner Urbanisierung der Gesellschaft zurück und brachte eine ansehnliche Zahl soziologischer Studien hervor wie In Search of Utopia (1955) von E. K. Francis, die klassischen Studien von John Winfield Fretz über Pilgrams in Paraguay (1953) und John A. Hostetlers Hutterite Society (1974) und Amish Society (1963).
Andere Soziologen wie J. Howard Kauffman, Leland Harder, Leo Driedger, Donald B. Kraybill, Calvin Redekop, Tom Meyers, Michael Yoder, Royden Yoder und Fred Kniss brachten eine Vielfalt soziologischer Untersuchungen zu mennonitischen Gemeinden und Konferenzen hervor. Diese Aktivitäten führten zur Gründung professioneller Organisationen wie der Conference of Mennonite Educational and Cultural Problems und der Anabaptist Sociology and Anthropology Association, die soziologische Dokumentationen zum sozialen Wandel förderten, der sich in der „Mennonite Society“ vollzogen hat (Harry Loewen, Art. Mennonite Studies, in: ME, Bd. V, 573).
c) Kulturelle Studien
Kultur und kultureller Wandel waren weniger vorherrschende Themen in der mennonitischen Soziologie. Das liegt möglicherweise daran, dass Anthropologie unter den meisten mennonitischen Gelehrten weniger populär ist, zumal sie sich vor allem mit transkulturellen Vergleichen und der Entwicklung von Kulturen beschäftigte, wie sie der mennonitischen Gemeinschaft nur wenig entsprachen. Anthropologen wie Jacob A. Loewen, John Janzen, Elmer Miller, Robert Ramseyer und Wilmar Stahl haben zwar zu mennonitischen Themen, vor allem in Bezug zur Missionsarbeit, publiziert. „Anthropologie“ ist aber als Stichwort nicht in die Mennonite Encyclopedia aufgenommen worden. Werke jedoch wie Leo Driedgers und Donald B. Kraybills Mennonite Peacemaking: From Quietism to Activism (1994) sind Beispiele einer soziologischen Analyse des kulturellen Wandels, wie er sich in der mennonitischen Ausrichtung des Friedenszeugnisses vollzog. Fred Kniss legte in seinem Buch Disquiet in the Land (1997) eine Analyse des massiven kulturellen Wandels im Mennonitentum vor, der zu Konflikten geführt hat. Donald B. Kraybill hat in The Riddle of Amish Culture (1989) untersucht, wie die Amischen mit kulturellem Wandel umgegangen sind.
Die Religionssoziologie hat mit ihrer besonderen kulturellen Ausrichtung die Aufmerksamkeit der jüngeren mennonitischen Soziologen auf sich gezogen, besonders weil es das ethnisch-religiös ausgerichtete kulturelle Dilemma des Täufertums betrifft, nämlich deren Identität sowohl als religiöse als auch als kulturell-ethnische Gruppierung (s. Michael Yoder, Art. Ethnicity, in: ME, Bd. V, 274 f.). Eine frühe Untersuchung dieses Themenaspekts war Calvin Redekops Buch über die Mennoniten der „Alten Kolonie“ The Old Colony Mennonites: Dilemmas of Ethnic Minority Life (1969). 1973 legte Clarence Hiebert eine ethnisch-kulturelle Untersuchung zu den Holdeman-People: The Church of God in Christ, Mennonite, 1859–1969 vor. Peter M. Hamm untersuchte in seinem bereits erwähnten Buch Continuity and Change Among Canadian Mennonite Brethren (1987) die religiöse Identitätskrise in den Mennoniten-Brüdergemeinden und Fred Kniss in Disquiet in the Land (1997) die Konflikte, die nach dem Eindringen religiöser und kultureller Werte von Außen in die Mennonitengemeinden entstanden waren.
Zahlreiche soziologische Studien, Konferenzen und Veröffentlichungen unterstreichen ebenfalls die zentrale Bedeutung der Frage nach der konfessionellen →Identität. Eine wichtige Konferenz zu dieser Frage hat ihren Niederschlag in Mennonite Identity: Historical and Contemporary Perspectives (1988), hg. von Calvin W. Redekop und Samuel J. Steiner, gefunden. Konfessionelle Identität wird den Mennoniten immer mehr zum Problem, sofern sie versuchen, mit der Moderne zurechtzukommen, besonders wenn es um die Beziehung zwischen nationaler Kultur und mennonitischem Glauben geht. Der Versuch, sich vom Habitus einer strikt religiös-ethnischen Gruppe zu befreien, bereitet den Mennoniten zunehmend Schwierigkeiten (Calvin Redekop, Anabaptism and the Ethnic Ghost, 1984, 133–146). Dieses Problem ist in Europa weniger ernst, da sich die täuferisch-mennonitische Identität hier auf eine kontrollierte Weise der Leitkultur ihrer Gesellschaft angeglichen hat (→Akkulturation). In Ländern, in denen die mennonitische Missionsarbeit erfolgreich war, sind die Kirchen jetzt dabei, ihre eigene kulturelle Identität zu entwickeln.
4. Die Rolle mennonitischer Soziologen im Leben und Denken ihrer Kirchen
Mennonitische Soziologen haben das täuferische Leben und Denken in vielerlei Hinsicht dokumentiert, untersucht und Beiträge zu einigen besonders wichtigen Herausforderungen geleistet:
1. Selbstverständnis und Identität: Die täuferische „Absonderung von der Welt“ hat ein ernstes Problem geschaffen und die Frage aufgeworfen, ob das Mennonitentum grundsätzlich auf die täuferischen Ursprünge des 16. Jahrhunderts festgelegt sei und ob das gegenwärtige Mennonitentum das Original zurückgewiesen habe. Wie können die Mennoniten ihrem missionarischen Auftrag im Kontext ihres fortwährenden theologischen, kulturellen und sozialen Separatismus gerecht werden? Ist Ethnizität ein Hindernis oder eine Quelle der Inspiration für mennonitische Identität? Diese Fragen waren sehr umstritten und eine Ursache zahlreicher Spaltungen. Mennonitische Identität ist ein fortwährendes Dilemma in den Mennonitengemeinden und hat die Soziologen veranlasst, seine Ursachen und Konsequenzen zu untersuchen.
2. Das Problem, das sich mit der Veränderung im Glauben bzw. der Theologie und im gesellschaftlichen Leben bzw. der Frömmigkeitspraxis stellt, hat ungeheuere Spannungen in der mennonitischen Tradition hervorgerufen: Dauerkonflikt, Entfremdung und Spaltungen. Mennonitische Soziologen haben sich redlich bemüht, die Gründe, die Dynamik und die Konsequenzen dieses Problems zu verstehen (Driedger und Redekop, Art. Mennonite Studies, in: Mennonite Encyclopedia, Bd. V, 836). Royden Loewens Family, Church und Market (1993), Fred Kniss´ Disquiet in the Land (1997) und Calvin Redekops Leaving Anabaptism (1998) sind Beispiele dieser Art der Untersuchung und Erklärung. Doch ihre Forschungen und Veröffentlichungen stießen nicht nur auf das Wohlwollen von Theologen und Laien. Der Grund dafür liegt in den „säkularen“ Grundlagen der Soziologie und den Vorschlägen, ihre Ergebnisse anzuwenden. Viele fürchten, dass die soziologische Arbeit dazu beitragen könnte, die Kirche noch mehr zu verweltlichen. Im Mennonitentum und anderen separatistischen Gruppen kommt ein grundsätzlicher Argwohn gegen jede intellektuelle Arbeit und höhere Erziehung stärker zum Tragen als in den großen Kirchen.
3. Die Entstehung religiöser, sozialer und kultureller Institutionen bedeutet einen wachsenden Stress für die mennonitische Identität und Mission. So bedrohen soziologische Faktoren und Kräfte wie wirtschaftlicher Reichtum und wirtschaftliche Macht, Organisationsstrukturen, soziale Ungleichheit und Traditionsverlust durch Akkulturation in zunehmendem Maße das historische Verständnis des Täufertums. Die ursprünglichen Ideale der Täufer, die heute in konkreten Lebenssituationen aktualisiert werden, fangen an, wie die Gesellschaft auszusehen, die von den Täufern einst abgelehnt wurde. Mennonitische Soziologen haben diese Dynamik erforscht und ihre Forschungsergebnisse in zahllosen Abhandlungen und Zeitschriften veröffentlicht. Sie wurden bisher jedoch aus den bereits erwähnten Gründen nicht gebührend gewürdigt, so dass die soziologisch zu erfassende Wirklichkeit weiterhin ignoriert wird, die den Wirklichkeitsverlust in den Gemeinden der Mennoniten verursacht hat (s. Hans-Jürgen Goertz, The Confessional Heritage in its New Mold, in: Redekop und Steiner (Hg.), Mennonite Identity, 1988, 1–12; neuerdings nimmt sich die mennonitische Soziologie mit besonderer Aufmerksamkeit der Organisationen und Institutionen an: s. Calvin Redekop, The MCC-Ethos and the Organizational Revolution, 107–132).
4. Täufer und spätere Mennoniten haben sich kein solides philosophisches Fundament für ihren Glauben geschaffen, da ihre angefochtene Existenz in früheren Zeiten dafür keine Gelegenheit bot. Aber in späteren Epochen wurde ihr Gespür für Absonderung von der Welt schwächer, da vieler ihrer Prinzipien von der größeren Gesellschaft akzeptiert wurden oder weil sie selber gesellschaftliche und kulturelle Werte angenommen hatten. So wurde Wehrdienstverweigerung zum wichtigsten Identitätsmerkmal, weil andere ähnliche oder noch wichtigere Merkmale fehlten. So glauben Soziologen, dass das viele Probleme und Verstümmelungen der ursprünglichen Widerstandskraft der Täufer mit sich gebracht hat. Mennonitische Soziologen helfen auf indirekte Weise dabei, eine dringend benötigte Philosophie der Geschichte zu entwickeln, so langsam es damit auch vorangeht. Es besteht das dringende Bedürfnis (hier im Hinblick auf die nordamerikanische Situation der Mennoniten formuliert), den Mennoniten dabei behilflich zu sein, die wesentlichen Grundsätze ihres Glaubens auf ihrem Weg in die größere Gesellschaft noch einmal so zu durchdenken, dass ihr Glaube nicht untergraben wird (s. Nancy Lee, Making Sense of the Journey: Mennonite Stories Integrating Faith and Life and the World of Thought, Harrisonburg, 2007). Das Problem, eine angemessene Theorie für die Artikulation des Selbstverständnisses zu finden, ist nicht auf das Problem, das sich bei der Erforschung des täuferisch-mennonitischen Selbstverständnis stellt, beschränkt. Ein führender Soziologe wie Robert Bellah hatte einst bemerkt, dass selbst die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin noch über keine ihr angemessene Theorie ihres Faches im Kontext der menschlichen Gesellschaft verfügt (Bellah, Social Science as Philosophy, 1985, 297–307).
Bibliografie
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